Die Errichtung griechischer Tempel gehörte zu den wichtigsten Bauaufgaben in der Antike. Aber trotz einer über 150-jährigen wissenschaftlichen Beschäftigung mit diesen Bauten ist ihre Verwendung für kultische und soziale Zwecke nahezu unbekannt. Die Monographie untersucht diese Frage erstmalig systematisch auf der Grundlage sowohl der relevanten archäologischen Befunde der Spätklassik und des Hellenismus in Griechenland und Kleinasien, als auch der vorhandenen schriftlichen Überlieferung. So kann nachgewiesen werden, dass Tempelinnenräume regelhaft in die kultischen Abläufe des Heiligtums eingebunden waren und vielfach einen zentralen Opfer- und Betraum darstellten. Gleichzeitig wurden sie aktiv für eine vielschichtige soziale Interaktion genutzt. Es lässt sich jedoch kein kulturübergreifender Verwendungsmodus greifen, sondern jedem Tempel wurde ein individuelles Nutzungskonzept gemäß den lokalen Anforderungen eingeschrieben. Nicht nur architektonisch, sondern auch in den Nutzungsformen war demnach jeder griechische Tempel ein Unikat.
Seit Beginn der wissenschaftlichen Beschäftigung mit der griechischen Kultur stehen griechische Tempelbauten im besonderen Fokus der Forschung. Dennoch wurde ihnen bis weit in die 2000er Jahre hinein eine Bedeutung im griechischen Ritual vielfach kategorisch abgesprochen: Die Architektur der Tempel wurde lediglich als Fassade verstanden, vor deren Hintergrund die zentralen Rituale am Altar außerhalb des Tempels stattfanden. Ihre Innenräume galten schlicht als Aufbewahrungsort des Kultbildes, die einem größeren Publikum verschlossen blieben.
Erst seit den späten 1990er Jahren wurde dieses Bild in den altertumskundlichen Fächern vereinzelt in Frage gestellt, aber immer nur auf der Grundlage weniger Indizien. Die vorliegende Arbeit will durch eine explizit interdisziplinäre Zusammenstellung der archäologisch nachweisbaren funktionalen Objekte einerseits und der schriftlich überlieferten Handlungszusammenhänge andererseits eine tragfähige Grundlage erstellen, um das Spektrum nachweisbarer Verwendungsformen griechischer Tempelinnenräume beurteilen zu können.
Grundlegende Prämisse für eine Beschäftigung mit Tempeln als Handlungsraum ist ihre selbstverständliche Betretbarkeit durch ein breites Publikum. Diese Prämisse kann mit einer großen Anzahl, hier erstmalig systematisch zusammengestellter literarischer und epigraphischer Quellen für viele Beispiele einwandfrei bewiesen werden.
Die Arbeit kann zeigen, dass Tempelinnenräume einen zentralen Ort für die (rituelle) Kommunikation mit der Gottheit darstellten. Diese umfasst neben Gebeten auch konkrete Opferhandlungen, die parallel und ergänzend zum Hauptopfer am Altar stattfanden. Archäologisch kann diese Nutzung anhand fest installierter Opfervorrichtungen, wie Tischen, Opferstöcken und Räucherständern nachgewiesen werden. Daneben dienten Tempel als Schatzräume, Orte des Kunstgenusses und der Kunstrezeption und konnten in teils aufwändige administrativen Abläufe eingebunden sein, gerade wenn der Tempel Teil eines aktiven Finanzinstituts war. Es kann aber auch gezeigt werden, dass ein solch hervorgehobener (ritueller) Raum immer auch ein wichtiger Ort vielschichtiger sozialer Aushandlungs- und Kommunikationsprozesse war.
Entgegen der verbreiteten Forschungsmeinung spielten griechische Tempelinnenräume demnach eine zentrale Rolle in den rituellen und sozialen Praktiken griechischer Kultur.
Für das Verständnis des Phänomens Tempel ist aber entscheidend, dass sich Gewichtung und räumliche Anordnung der einzelnen Aspekte von Tempel zu Tempel erheblich unterschieden. Daraus lässt sich erschließen, dass der in den Grundzügen stark normierten Tempelarchitektur kein einheitliches Nutzungskonzept zu Grunde lag. Vielmehr fanden in einem lokalen Aushandlungsprozess unterschiedliche Interessen und Anforderungen Berücksichtigung, die dem einzelnen Tempelinnenraum einen jeweils individuellen Charakter als Handlungsraum zuwiesen.
Philipp Kobusch (*1980) studierte von 2001 bis 2006 Klassische Archäologie und Mittlere und Neuere Geschichte in Gießen. Die Promotion über "Die Grabbauten im römischen Hispanien. Zur kulturellen Prägung der Sepulkralarchitektur" im Jahr 2011 wurde mit einem einjährigen Reisestipendium des Deutschen Archäologischen Instituts ausgezeichnet. Von 2012 bis 2022 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Klassische Altertumskunde, Bereich Klassische Archäologie an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (CAU). Unterbrochen wurde diese Tätigkeit durch einen einjährigen Forschungsaufenthalt an der University of Cambridge (2018-2019) sowie Professurvertretungen für Klassische Archäologie an der CAU (Prof. Dr. A. Haug) und der Universität Heidelberg (Prof. Dr. N. Dietrich). 2020 erfolgte die Habilitation an der CAU.
Seit 2022 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter im Exzellenzcluster ROOTs, Subcluster Urban ROOTs an der CAU.
P. Kobusch hat an verschiedenen Grabungen in der Türkei, Zypern und Deutschland teilgenommen. Seit 2020 führt er in Kooperation mit Dr. M. Recke (Universität Frankfurt) das Grabungsprojekt Pera-Frangissa auf Zypern durch.