Gegenstand der Auswertung sind die archäologischen Ausgrabungen in der in der Schwäbischen Kleinstadt Gammertingen gelegenen Michaelskapelle aus dem Jahr 1981. Die interdisziplinäre Auswertung erbrachte insbesondere wichtige Ergebnisse zur frühen Hochadelsentstehung, daneben auch zur Stadtentwicklung, aber auch zu übergeordneten Ereignissen der Landesgeschichte. Neben der Archäologie sind Vertreter der Historischen Anthropologie, der Bioarchäologie, der Osteologie und der Bauforschung mit eigenen Beiträgen vertreten.
Die am Nordrand der schwäbischen Kleinstadt Gammertingen gelegene baulich unscheinbare Michaelskapelle wurde im Jahr 1981 fast vollständig archäologisch untersucht. Schon im Vorbericht wurde deutlich, dass die Kapelle in vorstädtische Zeit zurückreichte und auf eine herrschaftliche Eigenkirche zurückgehen dürfte. Dies kann nun konkretisiert werden: Die Michaelskapelle entstand im 10. Jahrhundert auf einer den Grafen von Gammertingen zuzuordnenden Niederungsburg, deren Kernburg aus zwei miteinander verbundenen und von einem gemeinsamen Graben umgebenen künstlich aufgeschütteten Hügeln bestand. Während auf dem in den benachbarten Flusslauf hineingebauten Osthügel das herrschaftliche Wohngebäude zu rekonstruieren ist, war der unscheinbarere Westhügel der sakralen Nutzung zugeordnet. Mit dem um 980 errichteten ersten massiven Kirchenbau beginnt unmittelbar die Nutzung als Familiengrablege der ansässigen Hochadelssippe. Die acht erfassten Bestattungen konnten über molekulargenetische Untersuchungen zu einem vier Generationen umfassenden Stammbaum zusammengefügt werden. Die offenbar nach festem Belegungsmuster bestatteten Toten sind mit den jeweiligen männlichen Familienoberhäuptern identisch oder im ersten Grad blutsverwandt. Im Verbund mit der Gräberstratigrafie und radiometrischen Untersuchungen der Gebeine lassen sich für die Belegungszeit des 10./11. Jahrhunderts sehr exakte Datierungen formulieren, was auch Auswirkungen auf die Chronologie der in den Gräbern gefundenen Keramik hat.
Der Zentralbefund Erbgrablege steht nicht allein, sondern ist in eine Entwicklung eingebunden, die mit einem ersten Herrenhof des mittleren 7. Jahrhunderts beginnt, in dessen Umfeld in größerem Maßstab Eisenverhüttung betrieben wurde. Nach einer „goldenen Generation“ der Gammertinger Grafen in der ersten Hälfte des 11. Jahrhunderts, die die neue Höhenburg Baldenstein errichten ließ und die Michaelskapelle zur Basilika mit Seitenturm ausbaute, begann ein schleichender Niedergang, der mit dem Aussterben der Grafen in der 2. Hälfte des 12. Jahrhunderts seinen Schlusspunkt fand. Nur mit Glück blieb der ausgebrannte Torso der gräflichen Eigenkirche erhalten, bis in der 2. Hälfte des 13. Jahrhunderts die Gründung der Stadt Gammertingen erfolgte. Die Michaelskapelle wurde als Schlosskapelle in den stadtherrschaftlichen Bezirk miteingebunden und erbrachte als solche bis in die Neuzeit hinein relevante Befunde zur Stadt-, aber auch zur Landesgeschichte.
Die Arbeit zeigt, dass eine interdisziplinär und methodenbewusst aufgestellte Archäologie in der Lage ist, das herrschaftsgeschichtlich effektiv immer noch „dunkle Zeitalter“ vor dem Einsetzen einer der etwas breiteren klösterlich getragenen Schriftüberlieferung im späteren 11. Jahrhundert deutlich zu erhellen. Auch wenn es erwartungsgemäß nicht gelang, eine direkte Verbindung vom spangenhelmtragenden „Fürst von Gammertingen“ des späten 6. Jahrhunderts bis zu den Grafen des Hochmittelalters zu knüpfen, kann der Befund von Gammertingen doch paradigmatische Bedeutung beanspruchen – in dem Sinn, dass die in den frühen Schriftquellen noch nicht aufscheinende Bedeutung lokaler Kontinuität für die Frage nach der Entstehung des hochmittelalterlichen Adels gleichwohl prominent mitbedacht werden muss.
Sören Frommer, Jahrgang 1970, studierte nach voriger Berufstätigkeit im Bereich Jugend- und Heimerziehung ab 1996 in Tübingen Ur- und Frühgeschichte und Archäologie des Mittelalters, Mittelalterliche Geschichte und Geologie. Abschluss als Magister Artium 2002 mit einer Arbeit über eine spätmittelalterliche Glashütte im Schönbuch. Nach einer befristeten Anstellung beim damaligen Landesdenkmalamt 2003-2006 Promotion bei Prof. Scholkmann in Tübingen. Thema der Dissertation war der Entwurf einer geschichtswissenschaftlichen Methodologie für die Archäologie. 2006-2012 arbeitete Frommer als wissenschaftlicher Angestellter im Tübinger Institut für Ur- und Frühgeschichte und Archäologie des Mittelalters, die letzten drei Semester davon im Rahmen des Drittmittelprojekts St. Michael, Gammertingen, dessen Ergebnisse hier präsentiert werden. Seit 2012 ist Frommer als freiberuflicher Mittelalter- und Neuzeitarchäologe tätig, Schwerpunkt sind Auswertungs- und Publikationsprojekte, daneben ist Frommer mit Ausgrabungen und baubegleitenden Untersuchungen auch praktisch tätig.
Die „Forschungen und Berichte zur Archäologie in Baden-Württemberg “ erscheinen ab 2016 als neue, hochwertige monographische Reihe des Landesamtes für Denkmalpflege im Regierungspräsidium Stuttgart. Die neue Reihe vereint die drei etablierten archäologischen Reihen des Landesamts (Forschungen und Berichte zur Vor- und Frühgeschichte, Forschungen und Berichte der Archäologie des Mittelalters sowie die Materialhefte zur Archäologie), die sich inzwischen inhaltlich und in ihrem Umfang kaum mehr voneinander unterscheiden, in einem neuen, modernen Design.
In der Reihe erscheinen in erster Linie Monographien, daneben aber auch Sammelwerke wie z. B. Tagungsbände. Die publizierten Forschungsergebnisse resultieren vor allem aus archäologischen Ausgrabungen der Landesdenkmalpflege, die häufig im Rahmen von akademischen Abschlussarbeiten aufgearbeitet wurden. Thematisch wird die Archäologie in ihrer gesamten zeitlichen Tiefe abgedeckt, von der Vor- und Frühgeschichte über die Provinzialrömische Geschichte und das frühe Mittelalter bis zur Archäologie des Mittelalters und der Neuzeit. Die neue Reihe ist das wissenschaftliche Aushängeschild der archäologischen Denkmalpflege in Baden-Württemberg.