Thomas Müntzer war der erste unter den Reformatoren, der die Messe und das Tagzeitengebet nicht nur in deutscher Sprache hielt, sondern seine liturgischen Formulare auch in den Druck gab und auf diese Weise über seine Wirkungsstätte Allstedt hinaus verbreiten ließ. In den Jahren 1523 und 1524 erschienen in kurzer Folge mehrere Schriften, darunter „Ordnung und Berechnung des Deutschen Amtes zu Allstedt“, die eine deutsche Liturgie vorstellten und die lateinische zu ersetzen versuchten.
Doch im Gegensatz zur deutschen Messe basiert die deutsche Messübersetzung nicht auf Impulsen der Reformatoren, sondern reicht bis ins Spätmittelalter zurück. Die vorliegende Studie konzentriert sich auf handschriftliche Messübersetzungen aus der Zeit vom Beginn des 14. Jahrhunderts bis 1516. Diese zeitliche Beschränkung ist notwendig, da mit Beginn der reformatorischen Bewegung die Liturgie nicht mehr nur übersetzt, sondern auch verändert und gefeiert wurde und sich damit immer weiter von den lateinischen Vorlagen entfernte.
Mathias Henkel untersucht sowohl die Rezeption der Messübersetzungen als auch ihre Form und Funktion. Eine Edition und eine Transkription der meisten Texte runden die Studie ab.
Was Hartmut Beckers 1985 über die deutschen Messübersetzungen des Spätmittelalters schrieb, gilt noch heute: „Selbst bei germanistischen Mediävisten und bei Liturgiewissenschaftlern [...] [ist immer] noch wenig bekannt, daß es während des Mittelalters in Deutschland [...] parallel zur sog. ‚nationalen Aneignung der Bibel‘ [...] auch Ansätze zu einer deutschsprachigen Rezeption der lateinischen Meßliturgie gegeben hat.“ (Beckers, Hartmut: Bruchstücke einer deutschen Missale-Übersetzung des 15. Jahrhunderts vom Niederrhein. Edition und Kommentierung der Fragmente Aschaffenburg, Stiftsbibliothek, U 106 (Fragm. 9). In: ALW 27 (1985), 91-102, hier 91.)
Die vorliegende interdisziplinäre Studie, die sich an der Schnittstelle zwischen Altgermanistik und Liturgiewissenschaft bewegt, nimmt dieses Desiderat zum Ausgangspunkt. Sie zielt darauf ab, die bislang selten beachteten spätmittelalterlichen Messübersetzungen bekannter zu machen und zu einer breiteren Beschäftigung mit ihnen einzuladen. Anhand der über 100 überlieferten Textzeugen zeigt sie Wege der muttersprachlichen Rezeption der lateinischen Messliturgie auf und erweitert die bisherigen Kenntnisse über die Überlieferungslage und die Funktion der Texte beträchtlich. Beigegeben ist ein Anhang mit Transkriptionen.
Die Resultate der Studie sind zu vielfältig, als dass sie erschöpfend aufgeführt werden könnten. Hier sei lediglich auf einige wenige verallgemeinerbare Ergebnisse verweisen. Festzuhalten ist, dass die ältesten Messübersetzungen aus dem 14. Jahrhundert stammen und in Form gereimter Proprien zunächst von Gebet- und Andachtsbüchern, dann aber in Prosaform auch von Plenarien und Messerklärungen überliefert werden. Spätestens um 1500 liegen komplette deutsche Missalien vor. Messübersetzungen müssen in den meisten Fällen als multifunktional betrachtet werden. Sie konnten bei der Tischlesung einer geistlichen Gemeinschaft verwendet werden, der privaten Erbauung des Klerus oder der Laien dienen sowie von Priesteramtskandidaten in ihrer Ausbildungszeit herangezogen werden. Das gelegentlich geäußerte Urteil, Messübersetzungen seien vor allem Laien vorbehalten gewesen, kann widerlegt werden. Die Messübersetzungen wurden in der Regel an die Eigenheiten der jeweiligen Diözesan- und Ordensliturgien angepasst, weswegen sie liturgiegeschichtlichen Quellenwert beanspruchen dürfen und die liturgischen Ordnungen mitunter sogar besser widerspiegeln als lateinische Messbücher oder „libri ordinarii“. Im Gegensatz zu den Messübersetzungen der Reformatoren im 16. Jahrhundert waren die Messübersetzungen des Spätmittelalters kein kontrovers-theologisches Thema.
Der Liturgiewissenschaft bietet die Studie neue Erkenntnisse zur muttersprachlichen Rezeption der lateinische Messliturgie, zum Verhältnis von Messübersetzungen und lateinischen Missalien, zu Fragen der liturgischen Bildung und Partizipation. Aus der Perspektive der Altgermanistik dürfte von besonderem Interesse sein, dass die als Bibelübersetzung apostrophierte muttersprachliche Übertragung liturgischer Texte als Messübersetzung betrachtet werden muss, die nicht nur parallel zur Bibelübersetzung erfolgte, sondern über diese zum Teil auch weit hinaus ging. Überdies sind die Erkenntnisse über Zentren, Adressaten und Funktionen deutscher Messübersetzungen für die überlieferungsgeschichtliche Erforschung der geistlichen Literatur des Spätmittelalters von Bedeutung.
„Die 2010 in Münster vorgelegte liturgiegeschichtliche Dissertation geht von einem von ca. 30 (1984) auf über 100 vermehrten Bestand an Messübersetzungen aus. Sie richtet sich mit Entschiedenheit gegen die verbreitete Ansicht, spätmittelalterliche Messübersetzungen seien vornehmlich an ein laikales Publikum adressiert.“
Von: Christoph Fasbender
In: Germinstik, 2012, Band 53, Heft 3-4, S. 498.
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„Messbuchübersetzungen sind sowohl für die Liturgie- als auch für die Literatur- und Sprachwissenschaft von Interesse. Sie geben Einblick in das zeitgenössische Verständnis der messe, zum Teil auch ihrer Praxis, uns sind als Übersetzungen wichtige Zeugnisse der Sprach- und Literaturgeschichte. Man merkt der vorliegenden Dissertation (...) an, dass ihr Autor Mathias Henkel in den genannten Disziplinen zuhause ist und eine profunde interdisziplinäre Forschung vorlegen kann. (...)
Mit diesem Buch liegt eine zweifellos wichtige Studie vor, die für die weitere Erforschung deutscher Missaleübersetzungen nicht nur wichtige Beobachtungen zusammenträgt, sondern diese Forschung hoffentlich auch anregen wird.“
Benedikt Kranemann
In: Theologische Literaturzeitung. 138 (2013) 3. Sp. 382-383.
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“Henkel offers a richly detailed and expertly executed study of vernacular liturgy before the Reformation, on the evidence of German “plenaries” (books of scripture readings and prayers for the mass arranged according to the liturgical calendar), vernacular missals, translations of the mass in devotional literature, and expositions of the mass. Concentrating on nine well-chosen manuscripts, he sheds much light on the history of liturgy and vernacular religious culture. Although this work puts to rest the idea that the Reformation invented vernacular liturgy, Henkel’s close exploration of the potential uses of his sources and his cautious speculations suggest the limits of laicization in the fifteenth century. His close study of the relationship of textual traditions in unprinted liturgical sources is exemplary.”
In: Archiv für Reformationsgeschichte. 41 (2012). Nr. 21.
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„Henkel weist darauf hin, dass Thomas Müntzer der erste der Reformatoren war, der Messe und Tagzeitengebete in deutscher Sprache hielt und diese aus dem Lateinischen übersetzten Texte auch drucken ließ. Er beließ es aber nicht bei Übersetzungen, sondern schrieb für den Gottesdienst Texte in deutscher Sprache. Auch das war neu. Nicht neu dagegen waren Übersetzungen der Messtexte einschließlich der Schriftlesungen - nur, dass sie nicht für die Liturgiefeier verwendet worden sind. Diese vorreformatorischen Messübersetzungen hat Henkel zum Gegenstand seiner theologischen Auseinandersetzung um die Messe gemacht, zu der auch die Messübersetzungen hinzugenommen werden müssen. Es ging bei den Übersetzungen und neu formulierten Texten nicht um das Verstehen der ursprünglich lateinischen Texte mithilfe der deutschen Sprache, sondern um den Kampf, der um die angemessene Gestalt der Messfeier geführt werden musste. Weil das aber nicht die Motive der vorreformatorischen Messübersetzungen sind, hat Henkel als Endpunkt der infrage kommenden Messübersetzungen das Jahr 1516 gewählt und behandelt vorrangig handschriftliche Texte, so dass sich als Anfangspunkt der Beginn des 14. Jh.s ergibt.
Die Studie verfolgt fünf Ziele: Die spätmittelalterlichen Messübersetzungen sollen bekannt gemacht werden, so dass man sich damit befassen kann. Es wird für die lateinische Messliturgie aufgezeigt, welche Arten und Wege die muttersprachliche Rezeption gegangen ist. Es wurden über 100 Handschriften ermittelt, sodass hier eine gegenüber anderen Listen erhebliche erweiterte Auswahl vorliegt. Einige Messtexte werden erstmals ediert. Das Layout und die Benutzungsspuren der Handschriften lassen kodikologische und paläographische Schlüsse zu.
Die Übersetzungen wurden aus Plenarien mit deutschen Messformularen genommen, dazu deutsche Messbücher, auch Messübersetzungen aus Gebets-, Andachts- und Erbauungsbüchern und schließlich Messübersetzungen aus Messerklärungen. Henkel stellt seine Ergebnisse in den europäischen Kontext und stellt programmatisch fest: „Weder der katholischen noch der protestantischen Seite ist es bis heute gelungen, die historische Leistung der mittelalterlichen Messübersetzungen ernst zu nehmen und als Teil der eigenen Identität herauszustellen. Die Wurzeln der deutschen Liturgie liegen jedenfalls weder in der Reformationszeit noch in der Liturgischen Bewegung noch im Zweiten Vatikanischen Konzil. Sie liegen im Spätmittelalter.“ (250)“
Jörg Neijenhuis
In: Jahrbuch für Liturgik und Hymnologie. 50 (2011). S. 83-84.
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„Die grundsolide, interdisziplinär angelegte Studie ist für Liturgiewissenschaftler, Kirchenhistoriker und germanistische Mediävisten - Literatur- wie auch Sprachwissenschaftler - in vielen Einzelergebnissen und daraus neu gewonnenen Schlussfolgerungen erhellend; sie leistet einen wichtigen Beitrag für die weitere Erforschung der geistlichen vorreformatorischen Literatur, zu der H.[enkel] mit konkreten Vorschlägen (vgl. 249f) einlädt.“
Rudolf Suntrup
In: Theologische Revue. 108 (2012) Nr. 1. Sp. 76-77.
Mathias Henkel
geboren 1979 in Kevelaer, studierte an der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster Katholische Theologie und Germanistik. 2006 erhielt er das Diplom in Katholischer Theologie, 2007 das Erste Staatsexamen in den Fächern Katholische Religionslehre und Deutsch. Von 2006 bis 2010 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Seminar für Liturgiewissenschaft der Katholisch-Theologischen Fakultät. Dort promovierte er 2010 mit der Studie „Deutsche Messübersetzungen des Spätmittelalters“. Seit Anfang 2010 arbeitet er als Studienreferendar am Gymnasium Paulinum in Münster.
Seine Forschungs- und Interessenschwerpunkte sind die muttersprachliche Rezeption der lateinischen Liturgie in Mittelalter und Früher Neuzeit, die Paläographie und Kodikologie der liturgischen Bücher des Spätmittelalters sowie die performative Religionsdidaktik.
Es ist das Anliegen dieser Buchreihe, in der Dissertationen, Habilitationsschriften, sonstige monographische Darstellungen und Sammelbände erscheinen werden, die Interdisziplinarität der modernen Mittelalterforschung noch mehr hervorzuheben und zu fördern als dies bisher der Fall ist. Angenommen werden Arbeiten aus allen Gebieten der Mediävistik, sofern der Aspekt der Interdisziplinarität darin betont wird, d.h. sofern sie die Grenzen eines einzelnen Faches zu überschreiten suchen.