Jenseits des Ortes des Geschehens oder: Wiederbelebung deutscher Geschichte in einem musiktherapeutischen Behandlungsprozess in Santiago de Chile.
2009 DOI: https://doi.org/10.29091/9783752001860/002 Seite 11 - 31 9783752001860_002.pdf 142,7 KBWie könnte sich eine musiktherapeutische Beziehung gestalten, in der der Patient Sohn einer vom Holocaust betroffenen nach Chile immigtierten jüdisch-deutschen Familie und die (etwa gleichaltrige) Musiktherapeutin eine in Chile lebende Tochter einer „typisch“ deutschen Familie ist? Im folgenden Beitrag geht es um die Besonderheiten dieser Bezeihungskonstellaton und deren Auswirkungen auf den Therapieverlauf: um den Widerstand des Patienten gegenüber dem musiktherapeutischen Instrumentarium der Musiktherapeutin und deren Einladung zur „freien Improvisation“ sowie den frühzeitigen Abbruch der Therapie. Die dazu gehörige Fallgeschichte wird unter Einbezug psychosynamischer und gesellschaftshistorischer Aspekte analysiert. Sie setzt sich mit dem Aufeinandertreffen von „söhnen“ und „Töchtern“ von Opfern und Tätern und deren Familiengeschichte auseinander. Der Artikel befasst sich zudem mit der chilenischen Vergangenheit, mit dem Chile als Einwanderungsland für Deutsche – Verfolgte und Verfolger – vor und nach dem zweiten Weltkrieg. Er verdeutlicht, dass Holocaust und deutsche Geschichte, weit ab vom „Ort des Geschehens“, im Chile von heute, weiterleben und zeigt auf, wie ein therapeutischer Kontext sich allmählich zu einem symbolisch-historischen Treffpunkt verwandelt. Der vorliegende Text ist eine Einleitung zur Selbstbeobachtung und Reflexion über die durch Musik ausgelösten emotinalen Bewegungen und Projektionen in musiktherapeutischen Behandlungsprozessen, in denen die am-eigenen-Leib-gespürten und durch-Erzählungen-erlebten Erfahrungen das Hier und Jetzt unbewusst mitbestimmen und wo Musikinstrumente, Musikstücke und musikalische Improvisationen zu Symbolträgern früherer Beziehungserfahrungen und „Wiederbelebern“ von traumatischen Ereignissen werden.