Eine Stadt aus Messing mitten in der Wüste konnte sich der nordafrikanische Gelehrte Ibn Haldun (gest. 1406) beim besten Willen nicht vorstellen. Mehr Phantasie besaßen die Erzähler der Sammlung Tausendundeine Nacht. Historische Berichte über die Westexpedition des Musa Ibn Nusayr (gest. 716) verflochten sie mit dem Alexanderroman, verschiedenen Salomolegenden, dem Palmyra-Mythos und, wie es den Anschein macht, sogar mit dem buddhistischen Maitrakanyakavadana zu einer faszinierenden Reise durch die Erinnerung an die menschliche Vergänglichkeit. Ihr Höhepunkt ist die Entdeckung einer mysteriösen Totenstadt, in deren Palast eine täuschend lebendig wirkende Mumie den Reisenden genau wie dem Leser Rätsel aufgibt. Gelöst wird dieses hier, indem ein Spiel mit Historie und „Fiktion“ bloßgelegt wird und sich so die eklektisch anmutende Erzählweise zu einer Motivkette verbindet, die den Helden unfehlbar zu seinem Ziel führt.
Wurde die „Messingstadt“-Erzählung von der Westexpedition Musa ibn Nusayrs (gest. 716) bisher fast ausschließlich in Hinblick auf ihre historisch-mythologischen „Wurzeln“ hin erforscht, interessiert sich diese Untersuchung für literarische Form als expressives Gestaltungsmittel. Durch eine differenzierte Raum-Zeit-Lektüre erscheinen die Stationen der Reise nicht mehr als ein Parcours in der Geografie, sondern als eine Szenenfolge, die Bild für Bild auf den westlichen Ozean (das Totenreich) anspielt. Gleichzeitig verweisen die Stationen motivisch auf die Trias Jerusalem-Felsendom-Paradies und somit auf die Heiligwerdung des Protagonisten. Obgleich in allen Stationen das spirituelle Ziel bereits eingeschrieben ist, wird dennoch eine Progression erkennbar, die eine Entwicklung des Helden reflektiert und sich unter anderem durch das symbolische Umdeuten wiederkehrender Themen ausdrückt. Als wesentlich für die literarische Transformation des historischen Eroberers in einen Heiligen zeigt sich sein fiktiver Rückzug aus dem Kriegsgeschäft als entscheidender Schritt für eine asketische Lebensführung. Diese Unstimmigkeit ist als bewusste Korrektur der Geschichte zu verstehen. Sie artikuliert eine spirituelle Wirklichkeit, die mit der historischen Realität konkurriert, ohne sie jedoch ganz zu verdrängen. Aufgrund dieser Ambivalenz ist die „Messingstadt“ keine Legende, die eine Heiligenfigur prägt, sondern der Versuch, eine „mystische“ Weltsicht zu illustrierten. In dieser Funktion präsentiert sich auch die Szene im Thronsaal der Messingstadt. Eine bildschöne junge Frau auf dem Thron entlarvt sich bei näherem Hinsehen als eine lebensecht präparierte Mumie, bei der es sich um „Tarmuz, Sohn der Tochter der Amalekiter“, handelt. Indem ihre/seine Androgynität nicht wie in bisherigen Forschungen als Abschriftfehler übergangen wird, offenbart sich der Thron als Leerstelle, die mit mehreren in der Erzählung aufgetauchten Figuren zu besetzen ist. Hier wird der mythologische Eklektizismus der „Messingstadt“ literarisch gebündelt, was symbolisch als Erreichen einer „Ganzheit“ gelesen werden kann, wie wir sie vom sufischen Konzept des „Vollkommenen Menschen“ her kennen. Somit unterscheidet sich die Erzählung in ihrem literarischen Anspruch grundlegend von den Messingstadt-Chroniken: Ihr zentralistisches Gestaltungsprinzip weist sie als das Werk geistreicher Autoren aus, die aus Geschichte und Geschichten eine höchst eigenartige Erzählung über eine menschliche Vervollkommnung schmiedeten.
„Insgesamt legt Hajjar eine beeindruckende Untersuchung zu der vielschichtigen Geschichte von der Messingstadt vor, die für das von ihm einleitend angeführte Bild von 1001 Nacht als einem Buch "der außergewöhnlichen Lebenswege und der schicksalshaften Bestimmungen" (S. XI) entscheidende Bedeutung besitzt“
Von Ulrich Marzolph
In: OLZ 110 - 2014, S. 150-152.
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„In den Bildern zur "Messingstadt" verarbeitet der Künstler Eberhard Schlotter seine eigene monatelange Einsamkeit auf dem Frachtschiff ebenso wie Eindrücke von Begegnungen mit Menschen in Ägypten, vor allem aber das Thema der Vergänglichkeit auf eine ganz eigene, persönliche Weise. (...) Auch der Verfasser Osman Hajjar (legt) Zeugnis ab. Der Mut, mit dem er an manchen Stellen der Studie seiner persönlichen Bewegtheit von der ebenso grandiosen wie rätselhaften "Geschichte von der Messingstadt" Raum gibt, ist jedenfalls bewundemswert“
Von Claudia Ott
In: Wiener Zeitschrift für die Kunde des Morgenlandes, Band 104, 2014, S.314-317.
Osman Hajjar wurde am 23. Mai 1965 geboren. Er studierte Arabistik an der Freien Universität Berlin. 2004 wirkte er als Projektmitarbeiter mit an der Erstellung der Literaturwebsite „Midad“ des Goethe-Instituts Kairo/Alexandria. 2008 erhielt er einen Forschungsauftrag am Sonderforschungsbereich 626 „Ästhetische Erfahrung“ der Freien Universität Berlin. Zurzeit arbeitet er an seinem Promotionsprojekt zum Thema „Besuch der Gräber“ (ziyarat al-qubur).
Diese Reihe stellt innovative Arbeiten zu den nahöstlichen Literaturen in ihren verschiedenen Epochen und Gattungen vor. Sie versteht sich nicht ausschließlich als ein Forum für Orientwissenschaftler, sondern möchte auch Komparatisten, Literaturwissenschaftlern und einer interessierten Öffentlichkeit Einblicke in das breite Spektrum gegenwärtig produzierter und rezipierter Literatur des Nahen Ostens bieten.
Denn die Herausgeberinnen, Autorinnen und Autoren wollen den Titel der Reihe programmatisch verstanden wissen. Sie gehen von einem Begriff der Weltliteratur aus, der die orientalischen Literaturen nicht nur statisch einbegreift, sondern sie in ein Kulturregionen und Nationalsprachen übergreifendes Spannungsfeld stellt, dessen Dynamik erst im interdisziplinären Austausch erfasst werden kann. Sie gehen ferner davon aus, dass Literaturen in vielfacher Weise intertextuell geprägt sind, dass sie Lektüren verschiedenster vorausgehender Texte darstellen und daher erst in ihrem „lokalen historischen Kontext“ ihren Reiz als Ausdruck einer regional geprägten Ästhetik entfalten können. Die Reihe versucht so, einer neuen Sensibilität für mythische, archetypische, aber auch historische Subtexte in der nahöstlichen Literatur Bahn zu brechen, sie aber gleichzeitig als wichtigen Ausdruck einer globalen kulturellen Mobilität sichtbar zu machen.