Die einzigartige nomadische Gesellschaft, Kultur und Wirtschaftsweise im tibetischen Hochland hat im 20. Jahrhundert tiefgreifende Wandlungsprozesse erlebt. Die zunehmende Integration in die VR China hat äußerst diverse Formen von Entwicklung, Modernisierung und Urbanisierung selbst in entlegene Räume gebracht. In den 15 Kapiteln dieses Buches präsentieren tibetische, Han-chinesische und westliche Tibetforscher aus den Gesellschafts- und Umweltwissenschaften eine Auswahl von Perspektiven auf die jüngsten Transformationsprozesse. Im Zentrum steht dabei die Frage nach deren Bedeutung für die Gegenwart und Zukunft der Existenzsicherung tibetischer Nomaden im Rahmen der komplexen Rolle des chinesischen Staates.
Das tibetische Hochland umfasst die ausgedehntesten alpinen Weidegebiete der Welt. Sie haben eine einzigartige nomadische Gesellschaft, Kultur und Wirtschaftsweise hervorgebracht, in der auf der Basis von Yak- und Schafproduktion über komplexe Austauschsystemen mit Ackerbaugebieten und dem Tiefland und im Kontext sich ständig verändernder politischer Bedingungen Existenzsicherungssysteme entstanden, die es Hirtengesellschaften ermöglichte, sich nicht nur an die harten Umweltbedingungen anzupassen, sondern auch auf die sich ständig verändernden politischen und wirtschaftlichen Trends einzustellen. Das 20. Jahrhundert, insbesondere die immer engere Integration in den chinesischen Staat, hat einen einen tiefgreifenden Wandel der pastoralen Gesellschaften Tibets gebracht. Dieser hat das Hochland dem Einfluss einer breiten Palette von politischen Interventionen unterworfen, die auf die Entwicklung, Modernisierung und schließlich auch Urbanisierung der tibetischen Weidegebiete gerichtet sind. Dies hat selbst die entlegensten Räume mit den boomenden chinesischen Märkten verbunden und somit - indirekt - auch dem Weltmarkt. Nomadische Gemeinschaften erhalten damit Zugang zu neuen wirtschaftlichen Möglichkeiten, werden neuen Risiken ausgesetzt und in immer komplexere Warenketten integriert. Lokal spürbare Auswirkungen des Klimawandels, des demografischen Wandels, der Einfluss neuer Lebensstile und Konsummuster sowie neue Muster der Reichtums- und Armutsverteilung und Formen gesellschaftlicher Polarisierung machen das Bild zudem komplexer. Der vorliegende Band diskutiert die Frage nach der Zukunft des tibetischen Nomadismus/Pastoralismus. Angeleitet durch den Sustainable Livelihood-Ansatz bietet er eine Auswahl aktueller Perspektiven auf diese jüngsten Transformationen und deren spezifische Auswirkungen auf die lokalen nomadischen Existenzsicherungssysteme. In 15 Kapiteln umreißen tibetische, Han-chinesische und westliche Tibetforscher aus Sozial- und Umweltwissenschaften in Feldforschungs-basierten lokale Fallstudien verschiedene Blickwinkel der jüngsten Transformationsprozesse und deren Bedeutung für die Lebenshaltung und Existenzsicherung pastoraler Gruppen. Mit Blick auf die komplexe Rolle des (chinesischen) Staates, der (neuen) Märkte und der Weideressourcen veranschaulichen sie, wie die pastoralen Lebensgrundlagen im tibetischen Hochland gegenwärtig und in der Zukunft gestaltet werden.
„(...) the volume is admirably thorough in its coverage of issues, provides very informative data and delivers a coherent set of arguments about the need to take Tibetan herders’ perspectives, experiences and knowledge seriously, and about Tibetan herders’
agency in shaping future drokpa trajectories. The volume’s inclusion of many Tibetan authors is also a definitive strength. In sum, it will be of great interest to those new to the field of contemporary Tibetan pastoralism as well as a handy reference for seasoned researchers and practitioners.“
Von Emily T. Yeh
In: Nomadic Peoples 22 (2018), S. 378-381
Andreas Gruschke
Magisterstudium der Geographie, Völkerkunde und Sinologie an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. 1987-2006 Arbeit im Tourismus in tibetischen Gebieten, China und Korea. 2004-2012 Mitarbeiter im Sonderforschungsbereich SFB 586 „Differenz und Integration“ an der Universität Leipzig mit Promotion 2009 in Entwicklungsgeographie über Fragen der Existenzsicherung bei tibetischen Nomaden. Seit 2012 Professor an der Sichuan University in Chengdu, China. Forschungsschwerpunkte: Transformation nomadischer Gesellschaften, ländliche Existenzsicherung und Auswirkungen touristischer Entwicklung in Westchina.
Ingo Breuer
Ingo Breuer ist Geograph und Professor an der Sichuan University in Chengdu, China. Nach seiner Promotion an der Universität Freiburg war er von 2001 bis 2012 am Sonderforschungsbereich ‘Differenz und Integration’, Universität Leipzig, tätig. Seine Forschungsschwerpunkte umfassen Fragen der ländlichen Existenzsicherung und Entwicklung, Transformation nomadischer Gesellschaften, sowie der Integration lokaler Ökonomien in die Weltwirtschaft.
Hg. im Auftrag des SFB von Jörg Gertel, Stefan Leder,
Jürgen Paul und Bernhard Streck
Nomadische und sesshafte Lebensformen koexistieren in weiten Teilen der Welt, insbesondere im altweltlichen Trockengürtel, seit mehreren tausend Jahren. Die Erforschung ihrer Interaktion soll in der Reihe Nomaden und Sesshafte dokumentiert werden. Erst seit vergleichsweise wenigen Jahren hat die Einsicht an Geltung gewonnen, dass Nomadismus als Teil übergreifender ökologischer, ökonomischer, politischer und kultureller Systeme in den Blick genommen zu werden verdient, weil Formen des Kontakts mit der Welt der Sesshaften historische Zivilisationen über lange Zeiträume mitgeprägt haben und noch heute, unter anderen Bedingungen, Wirkung entfalten. Austausch und Konflikt zwischen Nomaden und Sesshaften, wie auch Prozesse der Anpassung und Abgrenzung haben sich auf unterschiedliche Lebensbereiche ausgewirkt. Ökonomie und Militärwesen, politische und soziale Ordnungen, Sprache und in Kunst, Vorstellungswelten und Identitätskonstruktionen geben dies zu erkennen. Mit der Wahrnehmung der Vielfalt und Wirkmächtigkeit dieser Interaktion ist eine Forschungsperspektive angelegt, welche die Aufgaben des 2001 einrichteten Sonderforschungsbereichs "Differenz und Integration – Wechselwirkung zwischen nomadischen und sesshaften Lebensformen in Zivilisationen der Alten Welt" bestimmt.
Der interdisziplinäre Rahmen des Sonderforschungsbereichs erlaubt die Beteiligung mehrerer Disziplinen, wie Archäologie und Geschichte, Literaturwissenschaft und Ethnologie, Geographie und Agrarökonomie; ihr Zusammenwirken verspricht Erträge, die eine Vielzahl von Perspektiven und Wissensbereichen erschließen.