Ein englisches Sprichwort warnt: »Don’t judge a book by its cover.« Auf den Einband richten sich noch vor dem Öffnen die Blicke der Leser, die sich seinem Eindruck nur schwer entziehen. Ausgehend von der berühmtesten Bücherhülle der Spätantike, die die Langobardenkönigin Theodelinda um 600 der Basilika San Giovanni in Monza stiftete, gelingt es dem Autor, die Voraussetzungen der Entstehung des spätantiken Prachteinbands in der christlichen Auseinandersetzung mit der Verwahrung der heiligen Schriften im Judentum zu bestimmen.
Ausgangspunkt der Arbeit ist eine genaue ikonographische Analyse der als Gammadiae bezeichneten, winkelförmigen Motive in den vier Ecken der Buchdeckel, die die Langobardenkönigin Theodelinda um 600 an die Basilika San Giovanni in Monza stiftete. Anhand dieses Motivs wird der Prozess rekonstruiert, der in der frühchristlichen Kunst den Buchdeckel zum Spiegel des Buchinhalts werden ließ und den Vierevangeliencodex als ein Abbild der Welt inszenierte. Besondere Berücksichtigung findet dabei das Verhältnis von jüdischer und christlicher Buchverwahrung. Es entwickelte sich vor dem Hintergrund der unterschiedlichen Buchformen, Rolle und Codex, die in den beiden Religionen zur Aufzeichnung der heiligen Schriften präferiert wurden. Der Weg des Codex von einer in der klassischen Antike als minderwertig angesehenen Buchform zum Repräsentationsobjekt im spätantiken Christentum wird anhand bildlicher Darstellungen der biblischen Bücher nachgezeichnet. Erscheinen diese im jüdischen Kontext in der Regel in der Form von Rollen im Thoraschrank an einem festen Ort innerhalb der Synagoge, versetzt sie das Christentum in Mobilität. Biblische Schriften werden als Rollen in einem Tragebehälter, der Capsa, zu Füßen des lehrenden Christus gezeigt, der selbst einen geöffneten, später auch geschlossenen Codex als Zeugnis seines Evangeliums in Händen hält. Parallelen im liturgischen Zeremoniell, insbesondere der im Rahmen der Taufe vollzogene Ritus der Expositio Evangeliorum, erklären die Entwicklung der Repräsentation des Evangeliums von einem zunächst stets geöffnet präsentierten Buch zum geschlossenen Codex. Dessen Buchdeckel konnte zunehmend die Funktion der Türen des Thoraschranks übernehmen. Die kosmologische Deutung der damit gleichgesetzten Bundeslade wurde auf den christlichen Buchdeckel übertragen, der sich als ein Medium etablierte, das zwischen Offen und Geschlossen, zwischen Bild und Wort vermittelt und gleichermaßen die Welt wie die heilige Schrift repräsentiert. Wie prägend dieses ikonographische Konzept für das abendländische Schriftverständnis wurde, zeigt der Epilog der Arbeit, der eine Brücke vom spätantiken Buchdeckel bis zu der von Dominique Perrault entworfenen Architektur der neuen Nationalbibliothek in Paris schlägt. Die Untersuchung erweist sich damit als fundamentaler Beitrag zur Debatte um die „Lesbarkeit der Welt“, eine Debatte, die angesichts des Entstehens allumfassender digitaler Bibliotheken gerade in Bezug auf die materielle Form des Buches höchste Aktualität besitzt.
„Die Darstellung bleibt nicht in der formalen Thematik stehen, sondern bietet immer wieder theologische Interpretationen. Das macht das gelehrte Werk auch für die Liturgiewissenschaftler interessant, weil die Bedeutung des geöffneten Codex, immer wieder thematisiert wird. (...) Die thematische Fortschreibung des „Buch"-Themas besitzt also Aktualität.“
Von: Angelus Häußling
In: Archiv für Literaturwissenschaft
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„Die Arbeit ist eine - durch Indizes leider nicht weiter erschlossene - Fundgrube für alle, die an Kunstgeschichte Bibelwissenschaft, Kirchengcschichte, Theologie und Bibliothekswesen interessiert sind.“
Von: Joef M. Oesch
In: Zeitschrift für katholische Theologie, Band 135, 2013,Heft 4, S.446-447.
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„Thomas Rainer kann aufzeigen, dass dabei die Verzierung mit den winkelförmigen Motiven an den vier Ecken der Deckel, eine große Rolle spielte. So wurde er zum Spiegel des Buchinhalts und inszenierte den Vierevangeliencodex zu einem Abbild der Welt. (...)
Spannend ist vor allem der Epilog der Dissertation, der eine Brücke zur Bibliothèque nationale de France in Paris schlägt, die von Dominique Perrault gleichsam über einem Grundriss in Form der Buchhülle mit Gammadiae errichtet wurde und daher zum Nachdenken über die „Lesbarkeit der Welt“ anregt.“
I. Siede
In: Bulletin codicologique. 2012, 1. S. 94-95.
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„Druck und Reproduktionen sind vorzüglich. Eine großartige Arbeit. Faszinierend auch für uns Bücherfreunde ist, daß und wie der Autor eine Brücke vom spätantiken Buchdeckel und vom Mantel der Thorarolle zur Architektur der neuen französischen Nationalbibliothek schlägt: „das mittelalterliche Weiterleben der Bibliothek als Scrinium oder Capsa des kultisch verehrten Buches“ (S. 217). Die vorliegende Untersuchung ist ein wichtiger Beitrag über die „Lesbarkeit der Welt“ im Sinne der gleichnamigen Veröffentlichungen von Hans Blumenberg (1979) und Uwe Timm (2009).“
Dieter Schmidmaier
In: Marginalien. 206 (2012) 2. S. 96-97.
Thomas Rainer
geb. 1973, Studium der Kunstgeschichte, Alten Geschichte und Geschichte in Innsbruck und Freiburg im Breisgau, Promotion 2008. Von 1998 bis 2001 Studienaufenthalt an der Bibliothèque nationale de France in Paris. Ab 2002 Tätigkeit als Kulturpublizist und Ausstellungskurator in München, zuletzt als wissenschaftlicher Mitarbeiter der Bayerischen Schlösserverwaltung. Lehraufträge an der Universität Innsbruck und an der Fachhochschule Kufstein. Publikationen zur spätantiken und mittelalterlichen Kunst, der Sozialgeschichte des mittelalterlichen Künstlers, dem Verhältnis jüdischer und christlicher Kunst sowie dem Kulturtransfer zwischen Asien und Europa. Arbeitet zurzeit an einer Mediengeschichte des codexförmigen Buches.
Diese Schriftenreihe widmet sich speziell den Forschungen zur Christlichen Archäologie und Kunstgeschichte in spätantiker und frühchristlicher Zeit. Sie umfasst die gesamte Epoche der Spätantike bis zum frühen Mittelalter, im Bereich des byzantinischen Reiches auch darüber hinaus.
Die Reihe ist überkonfessionell und ohne Bindung an bestehende Institutionen, arbeitet jedoch mit der „Arbeitsgemeinschaft Christliche Archäologie zur Erforschung spätantiker, frühmittelalterlicher und byzantinischer Kultur“ zusammen. Sie konzentriert sich vor allem auf die Kunstdenkmäler und versteht sich daher nicht als Konkurrenz, sondern als Ergänzung zu schon bestehenden Reihen, die in der Regel nicht nur die materielle Hinterlassenschaft der alten Kirche, sondern stets auch literarische, theologische und philologische Themen behandeln.
Einer klareren Zuordnung und einer größeren Bandbreite der verschiedenen Disziplinen wegen wurden zwei Unterreihen eingerichtet:
Die Reihe A „Grundlagen und Monumente“ setzt sich schwerpunktmäßig mit einzelnen Denkmälern bzw. Denkmalgruppen im Sinne einer korpusartigen Erfassung der Denkmäler auseinander.
In der Reihe B „Studien und Perspektiven“ werden einerseits Vorträge der Tagungen der „Arbeitsgemeinschaft Christliche Archäologie“ publiziert, andererseits bietet sie ein Forum für Untersuchungen zu den verschiedensten Fragen aus dem Gebiet der spätantiken/byzantinischen Archäologie und Kunstgeschichte.