Die vorliegende Arbeit beschreibt Begegnungen zwischen sehenden und sehgeschädigten Menschen. Sie möchte Anstöße geben, sich in die Welt geburtsblinder Kinder einzufühlen, diese durch Musiktherapie zu fördern und zu zeigen, wie Kontakte zwischen sehenden und blinden Menschen gestaltet und verstanden werden können. Dabei tritt deutlich zu Tage, dass sehende und blinde Menschen in zwei „unterschiedlichen Welten“ leben und ihr Sein von unterschiedlichen Erfahrungen und Gefühlen geprägt ist. Jeweils den anderen zu verstehen, kann daher schwierig sein: Ein sehender Mensch kann sich ein Bild machen, ein blinder nicht. Über welche Kontakt- und Beziehungsmöglichkeiten gelangt ein Blinder zu einer ganzheitlichen Vorstellung eines Gegenstandes und wie kann ein Sehender diese Prozesse der Konzept- und Symbolbildung mitgestalten? Die Auseinandersetzung mit den Herausforderungen und Fähigkeiten blinder Menschen führt zu einer Sensibilisierung auch gegenüber den eigenen Fähigkeiten als sehender Mensch.
Anhand eigener Praxiserfahrungen zeigt Heike Wrogemann-Becker, wie Musik für blinde Kinder jenseits pädagogischer Absichten als Universalsprache eingesetzt werden kann. Die gewonnenen, weitreichenden Erkenntnisse bieten ein Handlungsrepertoire für die Begleitung sehgeschädigter Menschen aller Altersstufen.
In diesem Buch für Angehörige und Interessierte, Pädagogen und Therapeuten wird der Frage nachgegangen, in welcher Weise das Symbolisierungsvermögen blinder Kinder im Vorschulalter durch Musiktherapie gefördert werden kann, d.h. wie hochgradig sehgeschädigte oder blinde Kinder darin unterstützt werden können, Menschen und Gegenständen Bedeutung zu geben, wenn diese doch im Erleben der Kinder so oft unerwartet erscheinen oder verschwinden. Es werden anhand von Fallbeispielen vier Entwicklungsphasen unterschieden und dargestellt. Am Beginn der musiktherapeutischen Arbeit steht die Herausforderung einer spezifischen intermodalen Kontaktaufnahme und das Entstehen von Erwartungen seitens des blinden Kindes. Die Autorin beschreibt die Anfänge erster Unterscheidungen zwischen „Ich“ und „Nicht-Ich“, der Entwicklung einer „Szene“ und dem Hinzutreten eines „Dritten“. Die zweite Phase steht ganz im Zeichen der Existenz unverbunden erscheinender Elemente: der als fragmentiert erlebten Welt entspricht das Spiel des Kindes mit einzelnen Tönen und Worten, die in dem Moment als etwas Reales wahrgenommen und bedeutend werden, als das Kind bemerken kann, dass etwas Erwartetes (wie das Fortlaufen eines Rhythmus’) nicht eintritt. Die dritte Phase beschreibt das Kind, das sich in verschiedenen Rollen seiner eigenen Geschichte darstellt und Kränkungen im gemeinsamen Spiel mit Rhythmen und Melodien darstellen und selbst bearbeiten kann. In Phase vier wird der Fokus erweitert und der Blick des sehenden Menschen auf das blinde Kind reflektiert: da, wo der visuelle Kontakt nicht stattfindet, bleiben blinder und sehender Mensch gleichermaßen allein. Welche Auswirkungen auf die Entwicklung des Kindes so (in Form sekundärer Behinderungen) entstehen können und wie (musiktherapeutisch) interveniert werden kann, wird diskutiert.
Das vorliegende Buch basiert auf den Erkenntnissen einer Grundlagenforschung psychoanalytisch orientierter Musiktherapie mit sechs blinden und hochgradig sehgeschädigten Kindern im Alter zwischen 2,5 bis 7 Jahren. Da bisherige Forschungen zur Musiktherapie mit blinden Klein- und Kindergartenkindern zumeist im anglo-amerikanischen Raum stattfanden und verhaltenstherapeutisch orientiert sind, existiert diese Arbeit bisher als einzige ihrer Art im deutschsprachigen Raum.
„Der Autorin gelingt es Anstöße zu geben für ein Verstehen eines gegenseitigen Unverständnisses - vor allem auch durch das (schwierige) Beschreiben des Erlebens der musiktherapeutischen Praxis: der Aufbau von Beziehungsstrukturen und dem Gelingen von Kontakt. Letzlich wird den Sehenden einiges vor Augen geführt: die eigene zu entwickelnde Sensibilisierung für sich und andere. “
In: Musiktherapeutische Umschau 3/2013, S. 307.
Heike Wrogemann-Becker
geb. 1960, lebt und arbeitet in der Lüneburger Heide, Hamburg und Hannover. Studium der Musikpädagogik, Musik- und Bewegungserziehung und Musiktherapie in Lübeck, Salzburg und Hamburg. Als Musikpädagogin tätig seit 1985, ab 2002 auch als Musiktherapeutin. Seit 2004 musiktherapeutische Arbeit mit mehrfachbehinderten Kindern und Jugendlichen. Fortbildungen und supervisorische Begleitung für Mitarbeitende in Schulen und Einrichtungen der Förderung von Menschen mit besonderem Assistenzbedarf. 2010 Promotion mit einer Forschungsarbeit über Musiktherapie und Blindheit. Seit 2011 Mitarbeiterin in einer Klinik und Lehrauftrag an der Musikhochschule Hamburg.