Das Buch erschließt in einer textkritischen Edition (Teilband II.1) nebst Apparaten (kritischer Apparat, Deszendenten, Parallelen, Similien, Quelle) überlieferungsgetreu zwei Redaktionen des frühbyzantinischen Spruch-Korpus Gnomologium Byzantinum und ersetzt die älteren Teileditionen Wachsmuths (1882) und Schenkls (1889). Die präzise Verortung des Gnom.Byz. im Traditionskontext der byzantinischen Spruch-Korpora fußt auf den Studien im ersten Teilband, die die Sammlungsgenese, die direkte und indirekte Überlieferung, die Spruchquellen und die bildungsgeschichtliche Bedeutung des Gnom.Byz. zum Gegenstand haben. Die Übersetzung und der Kommentar (Teilband II.2), welcher sich in die Rubriken „Überlieferung“, „Sprache“ und „Inhalt“ gliedert, erläutern spruchspezifisch die ca. 400 Sentenzen und Apophthegmen.
Das frühbyzantinische Spruchkorpus Gnomologium Byzantinum ist in etwa vierzig griechischen Handschriften des 10. bis 18. Jahrhunderts mit stark divergierenden Sammlungsversionen überliefert. Diese Polymorphie reflektiert die Intentionen von Lehrenden, die das Sprucherbe entsprechend ihren Interessen und Zielgruppen auswählen, umstellen, adaptieren und umformulieren. Die Analyse der Korpus-Genese von der Erstkompilation (Redaktion A) über zahlreiche Zwischenstufen bis zu den jüngeren, gut erhaltenen Redaktionen (A2 und B2) lässt seine Bedeutung als bildungsgeschichtliches Dokument erkennen, hat es doch in Byzanz über etwa ein Jahrtausend als Medium des Ethik-, Sprach- und Rhetorikunterrichts gedient.
Erstmals wird hier das Spruchkorpus, welches sich in eine alphabetisch und eine thematisch organisierte Hälfte gliedert, in seinem originären Redaktionszusammenhang betrachtet und philologisch, manuskriptologisch, quellenanalytisch und bildungsgeschichtlich erschlossen. Die Edition der Redaktionen A2 und B2 ersetzt die älteren Teileditionen Curt Wachsmuths (1882) und Heinrich Schenkls (1889), welche die thematische (sog. „demokrito-epiktetische Sammlung“) und die alphabetische (sog. „Florilegium Ἄριστον καὶ πρῶτον μάθημα“) Korpus-Hälfte isoliert und in einer fiktionalen, nirgends überlieferten kompilativen Form bieten, da die frühe Spaltung in die Überlieferungszweige A und B unberücksichtigt blieb. Die getrennte Edition erlaubt es nun, die Überlieferungswege der ca. 400 Sentenzen und Apophthegmen in vorher nicht gekannter Präzision, d.h. rezensionsspezifisch, aufzuklären.
Dank einer innovativen Methode, die die kompilative Strukturanalyse mit der Textkritik verknüpft, lässt sich die polymorphe Sammlungs- und Textgeschichte von der Erstkompilation bis zu den jüngsten Textzeugen stemmatisch darstellen. Auch die komplizierte indirekte Tradition einzelner Gnom.Byz.-Sprüche in dependenten Sammlungen wird so analysierbar: Neben der über das Corpus Parisinum und seinen Deszendenten (Maximus etc.) verlaufenden Deszendenz existiert eine bislang unbekannte Traditionslinie, die sich aus einem weiteren, nicht-überlieferten ‚Universalgnomologium‘ als Mittlerquelle speist.
Der spruchspezifische Kommentar wendet sich, über Spezialbeobachtungen zur „Überlieferung“ (Ü) und „Sprache“ (S) hinaus, mit der Rubrik „Inhalt“ (I) und der Übersetzung auch an den geistesgeschichtlich interessierten Leser ohne Griechischkenntnisse, indem er die Spruchweisheit erläutert und Bezüge zu antiken philosophischen Denktraditionen herstellt. Im Zentrum stehen die vier Hauptquellen, für die sich der Ursprung aus bzw. die Vermittlung über ein als ‚pythagoreisch‘ bezeichnetes Milieu wahrscheinlich machen lässt. Insbesondere die genuin neupythagoreischen Quellen gewähren wichtige Einblicke in die antike Spiritualität und Mentalität.
Jens Gerlach, geboren 1965 in Berlin, studierte von 1989 bis 1996 Klassische Philologie an der Universität Hamburg. Seit 2000 lehrt er Griechisch, Latein und Philosophie am Hamburger humanistischen Gymnasium Christianeum. Seine Forschungsschwerpunkte sind die griechische Spruchtradition in Spätantike und Byzanz (Gnomologien und Florilegien) sowie der Satiriker Lukian von Samosata.