Der Band „Grenzgänge“ versteht sich als Beitrag sowohl zur angewandten Literaturanalyse als auch zur Literatur- und Kulturtheorie. Als erste umfassende Studie zum literarischen Werk der libanesischen Autorin Hudā Barakāt (*1952) fokussiert er in Einzelanalysen ihrer ersten drei Romane jeweils einen zentralen Aspekt: Androgynie, Liebe und Wahnsinn sowie Utopie. Quer dazu analysiert die Studie diese Aspekte als existenzielle Grenzsituationen. Im Kontext des ‘spatial turn’ entwickelt sie ein Konzept von ‘Grenzgängen’ als Instrument der Literaturanalyse, das, indem es Konzepte aus unterschiedlichen Disziplinen verbindet, die verschiedensten physischen wie abstrakten Räume zu fassen vermag.
Moderne arabische Literatur wird oft allzu eindimensional als Spiegel der politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse gelesen. So scheinen sich für die Untersuchung zeitgenössischer literarischer Texte libanesischer Autoren Aspekte wie Krieg, Trauma, Erinnerung und – im Falle von Autorinnen – weibliche Selbstbehauptung geradezu aufzudrängen.
Die libanesische Autorin Hudā Barakāt (*1952), die seit 1989 in Paris lebt, gehört zu den prominentesten Vertretern der arabischen Literatur. Ihre äußerst dichten, komplexen Romane berühren ein breites Spektrum von Aspekten der menschlichen Existenz. Auf ganz eigene, subtile Weise setzt sich die Autorin im und durch das literarische Schreiben mit universellen wie spezifisch libanesischen Erfahrungen auseinander. Zwar ist die Handlung überwiegend im libanesischen Bürgerkrieg (1975-1990) situiert, doch wirkt der Krieg – eine von vielen möglichen Extremerfahrungen – als eine Art ‘blinder Fleck’, der, obwohl nicht im Fokus des Interesses, dennoch die Ereignisse bestimmt. Dabei fokussieren die Texte auf das Individuum mit seinen inneren Konflikten und Obsessionen – fragile Persönlichkeiten, die jede auf ihre Weise am Rande der Gesellschaft leben, Grenzen überschreiten, an Grenzen stoßen oder vielmehr sich in Grenzräumen bewegen.
Als erste Monographie zu ihrem Werk präsentiert dieser Band detaillierte Analysen der ersten drei Romane der Autorin, wobei jeweils ein zentraler Aspekt fokussiert wird: Androgynie als Metapher in „Ḥaǧar aḍ-ḍaḥik“ – Wahnsinn zwischen Liebeskrankheit und mystischer Erfahrung in „Ahl al-hawā“ – Utopie oder ‘reale’ Gegenwelten in „Ḥāriṯ al-miyāh“.
Im Kontext des ‘spatial turn’ analysiert die Studie diese Aspekte als Grenzüberschreitungen bzw. Grenzsituationen. Dazu erarbeitet sie in einem literatur- und kulturtheoretischen Kapitel zunächst ein Konzept von ‘Grenzgängen’, das verschiedenste Facetten, physische wie abstrakte Räume zu fassen vermag, indem es Konzepte aus unterschiedlichen Disziplinen verbindet: Heterotopie (Michel Foucault), Grenze und Transgression, Schwelle und Liminalität (Victor Turner) sowie Zwischenräume oder ‘Dritte Räume’ (Homi K. Bhabha, Gloria Anzaldúa, Edward Soja) und ‘ZwischenWeltenSchreiben’ (Ottmar Ette).
In der Verbindung von literatur- und kulturtheoretischer Diskussion und einem close reading der literarischen Texte, das kulturgeschichtliche und intertextuelle Bezüge einschließt, beweist die Studie die Tragfähigkeit des hier entwickelten Konzepts der ‘Grenzgänge’ als ein fruchtbares Instrument der Literaturanalyse, das neue Perspektiven eröffnet und Analogien wie Differenzen unterschiedlicher Grenzsituationen sichtbar macht.
Barbara Winckler ist Juniorprofessorin für Arabische Literatur und Kultur der Moderne an der Westfälischen Wilhelm-Universität Münster. Sie studierte Islamwissenschaft, Romanische Philologie und Ethnologie in Köln, Aix-en-Provence, Damaskus und an der Freien Universität Berlin, wo sie auch ihre Promotion im Fach Arabistik abschloss (2009) und den Lehrstuhl für Arabistik vertrat (2011-2013). 2009-2010 arbeitete sie im Rahmen des Forschungsprojekts „Topographien pluraler Kulturen Europas“ am Zentrum für Literatur- und Kulturforschung Berlin (ZfL). Sie war Mitglied des Vorstands der „European Association for Modern Arabic Literature“ (EURAMAL; 2012-2014) und ist derzeit Mitglied des Beirats der vom Goethe-Institut herausgegebenen Kulturzeitschrift für den Dialog mit der islamischen Welt, „Fikrun Wa Fann / Art & Thought“, sowie der „Arab-German Young Academy“ (AGYA).
Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der modernen arabischen Literatur, insbesondere Krieg und Nachkriegsdiskurse im Libanon, Kulturkontakte zwischen Orient und Okzident seit dem frühen 19. Jh., Grenz- und Schwellenphänomene, Literatur- und Kulturtheorie, gender studies sowie Presse und Öffentlichkeit im ‘langen 19. Jh.’. 2011 erhielt sie ein Dilthey-Fellowship der VolkswagenStiftung für das Projekt „Eine arabische ‘Renaissance’ im 19. Jahrhundert. Epochenzuschreibungen, kulturelle Selbstpositionierungen und neue Öffentlichkeiten im Blickwechsel mit Europa“.
Zu ihren Publikationen gehören neben dem vorliegenden Band „Grenzgänge“ sowie zahlreichen Aufsätzen eine Reihe von Sammelbänden, darunter „Arabische Literatur, postmodern“ (2004) [erweiterte engl. Fassung: „Arabic Literature – Postmodern Perspectives“ (2010)], „Arabesken / Arabesques“ (2005), „Poetry’s Voice – Society’s Norms. Forms of Interaction between Middle Eastern Writers and their Societies” (2006) sowie „A Life in Praise of Words. Aḥmad Fāris al-Shidyāq and the Nineteenth Century” (im Druck). Sie ist Mitherausgeberin des „Kritischen Lexikon zur fremdsprachigen Gegenwartsliteratur“ und der Buchreihe „Literaturen im Kontext. Arabisch – Türkisch – Persisch”.
Diese Reihe stellt innovative Arbeiten zu den nahöstlichen Literaturen in ihren verschiedenen Epochen und Gattungen vor. Sie versteht sich nicht ausschließlich als ein Forum für Orientwissenschaftler, sondern möchte auch Komparatisten, Literaturwissenschaftlern und einer interessierten Öffentlichkeit Einblicke in das breite Spektrum gegenwärtig produzierter und rezipierter Literatur des Nahen Ostens bieten.
Denn die Herausgeberinnen, Autorinnen und Autoren wollen den Titel der Reihe programmatisch verstanden wissen. Sie gehen von einem Begriff der Weltliteratur aus, der die orientalischen Literaturen nicht nur statisch einbegreift, sondern sie in ein Kulturregionen und Nationalsprachen übergreifendes Spannungsfeld stellt, dessen Dynamik erst im interdisziplinären Austausch erfasst werden kann. Sie gehen ferner davon aus, dass Literaturen in vielfacher Weise intertextuell geprägt sind, dass sie Lektüren verschiedenster vorausgehender Texte darstellen und daher erst in ihrem „lokalen historischen Kontext“ ihren Reiz als Ausdruck einer regional geprägten Ästhetik entfalten können. Die Reihe versucht so, einer neuen Sensibilität für mythische, archetypische, aber auch historische Subtexte in der nahöstlichen Literatur Bahn zu brechen, sie aber gleichzeitig als wichtigen Ausdruck einer globalen kulturellen Mobilität sichtbar zu machen.