Welche Bedeutung haben Wortlisten für die arabische Literatur? In der literatur- und kulturwissenschaftlichen Monographie werden zum ersten Mal die literarischen Wortlisten von Aḥmad Fāris aš-Šidyāq (1805/1806–1887), einem der bedeutendsten arabischen Intellektuellen des 19. Jahrhunderts, umfassend untersucht und als fundamentale Kultur- und Gesellschaftskritik gedeutet. Im Kontext einer „Rückkehr zur Philologie“ (Edward Said) entdeckt diese Studie in aš-Šidyāqs Sprachdenken eine intellektuelle Radikalität und künstlerische Experimentfreude, die ein neues Licht auf die Nahḍa, die arabische Erneuerungsbewegung an der Schwelle zur Moderne, wirft.
Aḥmad Fāris aš-Šidyāq (1805/1806–1887), einer der bedeutendsten arabischen Intellektuellen des 19. Jahrhunderts, veröffentlichte 1855 in Paris as-Sāq ʿalā as-sāq fī mā huwa al-Fāriyāq (Bein über Bein. Was es bedeutet, al-Fāriyāq zu sein), ein schillerndes Meisterwerk der modernen arabischen Literatur, das seine Leser mit zahlreichen literarisch-lexikographischen Wortlisten konfrontiert.
Die vorliegende literatur- und kulturwissenschaftlichen Studie untersucht erstmals ausführlich aš-Šidyāqs Listen. Sie entwickelt ein eigenes Analyseinstrumentarium, das die epistemisch-ästhetische „Entblößung der Wörter“ in aš-Šidyāqs Werk und in der arabischen Literatur und Lexikographie sichtbar und verständlich macht. Dazu zählt etwa die Poetik des enumerativen Prosareims oder der Synonymlisten, die innerhalb der vor- und frühmodernen arabischen Tradition einen großen Stellenwert einnehmen, von der literatur- und kulturwissenschaftlichen Forschung bislang aber kaum ernst genommen und diskursiv untersucht wurden.
Im Dialog mit Theorien u.a. von Assmann, Barthes und Cixous liest meine Arbeit aš-Šidyāqs literarische Wortlisten als fundamentale Kultur- und Gesellschaftskritik des 19. Jahrhunderts. Dabei spielen die zeitgenössischen Diskurse von Geschlecht, Lust und Sprache eine zentrale Rolle, die über die Aufzählungen archaischer arabischer Wörter in vielfacher Hinsicht verhandelt und ‚gegen den Strich‘ gebürstet werden. Im Kontext einer „Rückkehr zur Philologie“ (Edward Said) entdeckt diese Studie in aš-Šidyāqs Sprachdenken eine intellektuelle Radikalität und künstlerische Experimentfreude, die ein neues Licht auf die Nahḍa, die arabische Erneuerungsbewegung an der Schwelle zur Moderne, wirft.
Im Rahmen der Shidyaq-Forschung liefert diese Studie darüber hinaus einen substanziellen Einblick in seine mittlere Schaffensphase von 1848 und 1857 in London und Paris. Durch die Einbeziehung neu entdeckter Quellen verortet sie aš-Šidyāq in Netzwerken arabischer und europäischer Wissenschaftler und Literaten und arbeitet erstmals die historische arabische und europäische Rezeption von as-Sāq auf. Der umfangreiche Anhang stellt eine Auswahl arabischer, französischer, englischer und deutscher Paratexte aus dem 19. Jahrhundert zur Verfügung, die für das Verständnis von aš-Šidyāqs Leben und Werk wichtig sind.
Christian Junge ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter für moderne arabische Literatur und Kultur am Centrum für Nah- und Mitteloststudien an der Philipps-Universität Marburg. Er studierte Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaften und Arabistik in Berlin, Paris und Kairo. Er war Fellow an der Friedrich Schlegel Graduiertenschule an der Freien Universität Berlin, wo er über aš-Šidyāq promovierte. Er ist Mitglied der Arab German Young Academy (AGYA) and Ko-Direktor des Sommerschulprogramms „Arabische Philologien im Blickwechsel“ (arabic-philologies.de). Seine Forschungsschwerpunkte sind arabische Literatur und Philologie des 19. Jahrhunderts, Emotionen in der postmodernen ägyptischen Literatur und Wissenschaftsarabisch in der postkolonialen Theorie.
Diese Reihe stellt innovative Arbeiten zu den nahöstlichen Literaturen in ihren verschiedenen Epochen und Gattungen vor. Sie versteht sich nicht ausschließlich als ein Forum für Orientwissenschaftler, sondern möchte auch Komparatisten, Literaturwissenschaftlern und einer interessierten Öffentlichkeit Einblicke in das breite Spektrum gegenwärtig produzierter und rezipierter Literatur des Nahen Ostens bieten.
Denn die Herausgeberinnen, Autorinnen und Autoren wollen den Titel der Reihe programmatisch verstanden wissen. Sie gehen von einem Begriff der Weltliteratur aus, der die orientalischen Literaturen nicht nur statisch einbegreift, sondern sie in ein Kulturregionen und Nationalsprachen übergreifendes Spannungsfeld stellt, dessen Dynamik erst im interdisziplinären Austausch erfasst werden kann. Sie gehen ferner davon aus, dass Literaturen in vielfacher Weise intertextuell geprägt sind, dass sie Lektüren verschiedenster vorausgehender Texte darstellen und daher erst in ihrem „lokalen historischen Kontext“ ihren Reiz als Ausdruck einer regional geprägten Ästhetik entfalten können. Die Reihe versucht so, einer neuen Sensibilität für mythische, archetypische, aber auch historische Subtexte in der nahöstlichen Literatur Bahn zu brechen, sie aber gleichzeitig als wichtigen Ausdruck einer globalen kulturellen Mobilität sichtbar zu machen.