Die hellenistischen Kammergräber von Tarent stellen den bei weitem größten Bestand an hellenistischen Grabkammern dar, der aus dem antiken Mittelmeerraum bekannt ist. Im sechsten Band der Reihe Italiká werden erstmals die Kammergräber zusammengestellt und detailreich dokumentiert, die zwischen dem 4. und 1. Jahrhundert v. Chr. in der Nekropole von Tarent angelegt wurden. Durch die systematische Aufarbeitung dieser Grabform wird gezeigt, wie sich die vielschichtigen Prozesse in Unteritalien und im Mittelmeerraum in dieser Zeit auf die Grabarchitektur, die Ausstattung und den Grabkult der Tarentiner Gesellschaft ausgewirkt haben.
Bis heute zählt Tarent zu den bedeutendsten Städten Süditaliens. Bereits Ende des 8. Jahrhunderts v. Chr. als einzige Tochterstadt Spartas gegründet, entwickelte sich die Stadt schon bald zum führenden Handelsplatz der Magna Graecia (Großgriechenland). Zwischen dem letzten Drittel des 4. und dem 1. Jahrhundert v. Chr. profitierte eine gesellschaftliche Schicht von der politischen und wirtschaftlichen Situation und drückte dies im Grabwesen durch die Errichtung architektonisch aufwendiger Kammergräber mit reichen Grabbeigaben aus.
In der vorliegenden Publikation werden die Tarentiner Kammergräber erstmals in einem umfassenden Katalog mit Plänen zu den einzelnen Grabkammern und der Nekropole, einer Beschreibung jedes Grabkontextes sowie einer fotografischen Dokumentation der Funde zusammengestellt. Mit über 150 bisher aufgedeckten Kammergräbern bilden die hier vorgelegten Befunde die bisher größte systematisch ausgewertete Gruppe von unteritalischen Grabkammern. In keiner anderen unteritalischen Nekropole konnte bisher eine derartige Konzentration von Kammergräbern ausgemacht werden, was als Indiz für einen enormen Wohlstand Tarents in dieser Zeit gewertet werden kann. Gleichzeitig sind die Grabgebäude ein Beispiel für die seit dem letzten Drittel des 4. Jahrhunderts v. Chr. einsetzende Monumentalisierung der Grabarchitektur in weiten Teilen Unteritaliens.
Auf dieser Befundbasis baut eine eingehende Analyse der Grabarchitektur, der Ausstattung und der Beigaben, aber auch der topografischen Organisation der Nekropole auf. Im Vergleich mit zeitgenössischen unteritalischen Grabkammern wird eine für Tarent typische Erscheinungsform der Grabanlagen herausgearbeitet. An ihnen kann abgelesen werden, wie die Tarentiner Oberschicht auf die kulturellen Einflüsse, kriegerischen Auseinandersetzungen und Eroberungen reagierte und die ideologischen und identitätsstiftenden Elemente zur Selbstdarstellung im Grab veränderte oder weiterführte. Vor allem mit dem Eingreifen Roms in Unteritalien und dem östlichen Mittelmeerraum kommt es zu deutlichen strukturellen Veränderungen in den Grabanlagen. Veränderungen, neu aufkommende Elemente und Besonderheiten in der Grabarchitektur können dabei als Reflexe des zeitgenössischen Geschehens und der gesellschaftlichen Veränderung angesehen werden. Dabei ist jedoch hervorzuheben, dass die Struktur einer Nekropole kein einfacher Spiegel der realen gesellschaftlichen Verhältnisse ist, sondern vielmehr dem Idealbild, das eine Gesellschaft von sich entwirft, entspricht.
Birte Ruhardt (1985) hat in Köln und in Rom Klassische Archäologie, Archäologie der römischen Provinzen und Kunstgeschichte studiert. Im Rahmen eines Cotutela di Tesi-Verfahrens promovierte sie im Jahre 2015 an der Universität zu Köln und an der Università di Roma „La Sapienza“ mit einer Arbeit über die Kammergräber von Tarent, die 2012 mit dem Premio Attilio Stazio von der Fondazione Taranto e la Magna Grecia ausgezeichnet wurde. Als Stipendiatin der a.r.t.e.s. Graduate School for the Humanities Cologne und des DAAD verbrachte sie längere Forschungsaufenthalte am Museo Nazionale Archeologico di Taranto und an der Queen’s University in Kingston, Ontario (Kanada). Seit 2015 arbeitet sie bei der Gerda Henkel Stiftung und ist dort seit 2017 als Vorstandsreferentin tätig. Ihr Forschungsinteresse gilt weiterhin der italischen Archäologie und der Funeralarchäologie, insbesondere der Sepulkralkultur in Unteritalien.
Herausgeber:
Nadin Burkhardt
Henner von Hesberg
Erich Kistler
Alessandro Naso
Richard Neudecker
Christina Nowak
Ellen Thiermann
Die Reihe „Italiká“ nimmt monographische Werke und thematisch einheitliche Sammelschriften aus den Gebieten der Altertumskunde auf, die sich im weitesten Sinne mit Quellen, Befunden und Funden auf dem Territorium des heutigen Italien in vorrömischer Zeit befassen. Bei der Auswahl der Manuskripte legt die Gruppe der HerausgeberInnen besonderen Wert auf methodisch und theoretisch innovative Ansätze, die das weit gefächerte Spektrum der komplexen Welt der Kulturkontakte exemplarisch beleuchten. Die Reihe soll die Forschung zu den italischen Kulturen intensivieren und ihr mehr Gewicht verleihen. Der griechische Begriff „Italiká“ betont den von außen gerichteten Blick auf Italien, steckt den geographischen Rahmen ab und unterstreicht den zeitlichen Schwerpunkt auf die vorrömische Periode. Die Redaktion der Bände wird durch die jeweiligen Autoren bzw. Herausgeber selbst getragen, und die Mittel für die Drucklegung für jeden Band neu eingeworben.