Noch vor der Mitte des 15. Jahrhunderts verfasste der Münchener Arzt und Literat ein Kräuterbuch, das die medizinische Wirkung von mehr als 170 tierischen und pflanzlichen Drogen beschreibt. Mit ihren großformatigen bildliche Darstellungen der Tiere und Pflanzen ist es das einzige durchgehend illustrierte Kräuterbuch in deutscher Sprache vor der Inkunabelzeit. Der Text wird erstmals in einer kritischen Ausgabe vorgelegt. Informationen zum Verfasser, zu Überlieferung und Textgeschichte sowie ein Sachglossar ergänzen diese Edition, der zudem eine repräsentative Auswahl von 64 ganzseitigen Farbabbildungen aus der dem Text zugrunde liegenden Leithandschrift beigegeben ist.
In der medizinischen Literatur des Mittelalters nimmt das Kräuterbuch des Münchener Arztes und Literaten Johannes Hartlieb († 1468) einen besonderen Platz ein, ist es doch das einzige durchgehend illustrierte Kräuterbuch in deutscher Sprache vor der Inkunabelzeit. Das Besondere und Innovative dieses mehr als 170 Kapitel umfassenden Kräuterbuchs, das der in Padua ausgebildete Leibarzt der bayerischen Herzöge Albrecht III. und Siegmund noch vor der Jahrhundertmitte zusammenstellte, sind die in sämtlichen Handschriften überlieferten Abbildungen der Drogen, die einen integralen Bestandteil des Werkes darstellen.
Das Gliederungsgerüst für die Kapitelabfolge des Kräuterbuchs bildet der alphabetisch geordnete Abschnitt über die Kräuter aus dem „Buch der Natur“ des Regensburger Domherrn Konrad von Megenberg († 1374), den Hartlieb fast zur Gänze wörtlich übernahm. Ergänzend dazu bereicherte er sein Werk mit zusätzlichen 76 Drogenkapiteln, die er in der Regel entsprechend der alphabetischen Ordnung jeweils blockartig am Ende eines Buchstaben-Abschnitts einfügte. Nur für eine kleine Zahl dieser Zusatzkapitel konnten Vorlagen eruiert werden. Dennoch muss dahingestellt bleiben, ob die restlichen Kapitel Hartliebs originärer Beitrag zu diesem Kräuterbuch darstellen; größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass auch sie einer uns bislang nicht bekannten Quelle entstammen. Abweichend vom alphabetischen Gliederungsprinzip verfuhr Hartlieb mit den Eingangskapiteln, die tierische Drogen zum Inhalt haben. Zwar griff er auch hier auf Konrads von Megenberg Natur-Enzyklopädie zurück, exzerpierte jedoch nur die medizinisch relevanten Abschnitte der entsprechenden Kapitel über die Vierfüßler.
Mit der ersten kritischen Edition dieses Textes auf der Grundlage der gesamten uns heute bekannten Überlieferung wird hier nunmehr ein überfälliges Desideratum eingelöst, denn bisher existierten von ihm nur Abdrucke einer nur fragmentarisch überlieferten Handschrift des Oberösterreichischen Landesmuseums Linz und eines erst in jüngerer Zeit gefundenen Textzeugen aus der Fürstlich Salm-Salm’schen Bibliothek in Anholt. Informationen zum Verfasser, zu Überlieferung und Textgeschichte sowie ein Sachglossar ergänzen diese Edition. Der Bedeutung der Illustrationen für diesen innovativen Kräuterbuch-Typus wurde insofern Rechnung getragen, als der Ausgabe eine repräsentative Auswahl von 64 ganzseitigen Farbabbildungen von tierischen und pflanzlichen Drogen aus der dem Text zugrunde liegenden Leithandschrift beigegeben werden konnte. Diese Illustrationen machen deutlich, dass die Tiere und Pflanzen nicht nach der Natur gezeichnet wurden, sondern gemäß der ikonographischen Tradition dargestellt wurden.
„Hartliebs „Kräuterbuch“ gehört zu den am besten erschlossenen Texten seiner Art. Nach der Erstedition einer unvollständigen (Linzer) Hs. 1958, die 1980 durch ein Teilfaksimile und 1989 durch eine Teiledition ergänzt wurde, erschien 2004 das Faksimile einer weiteren, wenn auch ihrerseits fehlerhaften hs. (Anholt-Moylönder Kräuterbuch), die jedoch sorgfältig transkribiert, übersetzt und ausführlich erläutert wurde. Nun liegt eine kritische Ausgabe vor, die zwar einer Leithandschrift (Berlin, Ms. Germ. Qu. 2021) folgt, jedoch - dem Sachtextcharakter entsprechend - auf inhaltliche Korrektheit Wert legt und erkennbare Irrtümer zu verbessern sucht. Da eine enge Text-Bild-Beziehung das wesentliche Charakteristikum dieses Kräuterbuches ist, wurden 64 ganzseitige Farbabb. aus der Berliner Hs. angefügt. Die knapp gehaltene Einl. stellt den Autor vor, referiert den Forschungsstand, schildert Aufbau, Vorlagen (besonders Konrad von Megenberg) und Bearbeitungsweise, beschreibt die erhaltenen Hss., rekonstruiert die Textgeschichte und erklärt die Editionsprinzipien. Eine gewisse Normalisierung der Schreibweisen, ein Glossar und besonders der übersichtliche Anmerkungsapparat erleichtern die Benutzung für Nicht-Fachleute.“
Ortrun Riha
In: Germanistik. 52 (2001) 1-2. s. 216-217.
Gerold Hayer
geboren 1945, Studium der Germanistik, Geschichte und Philosophie an der Universität Salzburg, 1972 Dr. phil., 1973 wiss. Mitarbeiter an Forschungsprojekten, 1981 Universitäts-Assistent, seit 1992 Univ.-Doz. für Ältere deutsche Sprache und Literatur und ao. Univ.-Prof. am Institut/Fachbereich für Germanistik an der Universität Salzburg.
Forschungsschwerpunkte: Spätmittelalterliche pragmatische Literatur, Text- und Überlieferungsgeschichte, Bibliotheksgeschichte.
Bernhard Schnell
geboren 1942, Studium der Germanistik und Geschichte an der Universität München, 1974-1990 wiss. Mitarbeiter (Forschergruppe „Prosa des deutschen Mittelalters“, Sonderforschungsbereich „Wissensorganisierende und wissensvermittelnde Literatur im Mittelalter“) in Würzburg, 1980 Dr. phil., 1990 Priv.-Doz. für Geschichte der Medizin, 1990-1994 akad. Oberrat am Institut für Geschichte der Medizin an der Univ. Würzburg, 1995-2007 Leiter der Arbeitsstelle des Mittelhochdeutschen Wörterbuchs an der Göttinger Akademie der Wissenschaften.
Forschungsschwerpunkte: Mittelhochdeutsche Lexikographie, deutsche Medizinliteratur des Mittelalters, Text- und Überlieferungsgeschichte.