Der Blick auf ausgewählte Werke türkischer Gegenwartsautorinnen und -autoren offenbart eine Literatur mit kosmopolitischem Anspruch, die sich den thematisch wie sprachlich engen Grenzen einer national beziehungsweise idealistisch aufgeladenen Literatur verweigert. Der Roman soll nicht länger im Dienste einer Nation, einer Idee stehen, soll nicht Grenzen ziehen, sondern diese in Frage stellen und so auch einem neuen, von globalen Vernetzungen geprägtem Lebensgefühl Ausdruck verleihen. Exemplarisch analysiert die vorliegende Arbeit Texte von Esmahan Aykol, Aslı Erdoğan, Hakan Günday und Elif Şafak und stellt diese in den Kontext sowohl gesellschaftspolitischer Entwicklungen in der Türkei, als auch in Bezug zu Konzepten und Theorien um Prozesse der Kosmopolitisierung.
Junge türkische Autoren stellen Grenzen in Frage. Grenzen zwischen Nationen, zwischen Menschen, zwischen Zeiten. Ihre Texte reflektieren ein neues, von Widersprüchen geprägtes Lebensgefühl, doch statt diese Widersprüche auflösen zu wollen, sich aufs Eigene zurückzuziehen und die Grenzen zum Anderen höher zu ziehen, lernen und lehren sie diese Widersprüche auszuhalten, stehenzulassen.
Nicht zuletzt dies rechtfertigt die Bezeichnung der „jungen Kosmopoliten“, betont doch der Soziologe Ulrich Beck, Kosmopolitismus ignoriere das Prinzip des Entweder-Oder und verkörpere das Sowohl-als-auch-Denken. Gerade dieses Sowohl-als-auch-Denken ist zum bestimmenden Prinzip der Werke zeitgenössischer türkischer Autoren geworden. Seine Umsetzung beinhalte Merkmale kosmopolitischer Literatur wie Mehrdeutigkeit, Gleichzeitigkeit, Polyperspektivität, Ambiguität in Bezug auf literarische Räume und Figuren, gleichermaßen lokal wie global verortbare Thematiken und die Abbildung der Dialektik des Konflikts zwischen dem Kosmopolitischen und seinen Gegnern. All dies lässt sich exemplarisch auch an den hier analysierten Texten festmachen. Diese sind im Einzelnen: Die Erzählung Yitik Gözün Boşluğunda (In der Leere des verlorenen Auges, dt. Der wundersame Mandarin, 1996) sowie der Roman Kırmızı Pelerinli Kent (Die Stadt mit der roten Pelerine, dt. Die Stadt mit der roten Pelerine, 1998) von Aslı Erdoğan; die Romane The Saint of Incipient Insanities (dt. Die Heilige des nahenden Irrsinns, 2004) und İskender (İskender, dt. Ehre, 2011) von Elif Şafak; Esmahan Aykols Roman Savrulanlar (Die Verstreuten, dt. Goodbye Istanbul, 2006) sowie Hakan Gündays Roman Az (Wenig, dt. Extrem, 2011).
Zeitgenössische türkische Autoren schaffen hier eine Literatur, die sich nicht instrumentalisieren lässt, die nicht länger im Dienst einer Nation steht, sondern eine neue Sicht auf jene regionale wie globale Welt erproben, zu der auch die Türkei heute gehört. Während aktuell die politische Situation in der Türkei schwierig bleibt, sich Bevölkerungsgruppen wieder feindlich gegenüberstehen und das Land einmal mehr an seinen inneren Spannungen zu scheitern droht, sind seine Literaten damit gefragter denn je. Ihre Stimmen, ihre Texte zeigen ein anderes Bild, eine andere Option der türkischen Gesellschaft. In diesem Sinne will die vorliegende Arbeit nicht nur die gerade im deutschsprachigen Raum nach wie vor überschaubare Forschung zur zeitgenössischen türkischen Literatur erweitern, sondern auch herausstellen, dass hier Literatur Vielfalt zelebriert und bewusst die unzähligen Nuancen der so heterogenen türkischen Gesellschaft reflektiert, wo Politik eher Ressentiments schürt und die Grenzen höher zieht.
Katharina Müller, geboren 1984, arbeitet seit 2018 als DAAD-Lektorin an der Helwan-Universität in Kairo, Ägypten. Sie studierte Islamwissenschaft, Neuere und Neueste Geschichte sowie Deutsche Philologie in Münster und Istanbul und promovierte an der Münsteraner Graduate School Practices of Literature zu Prozessen der Aneignung und Abgrenzung in der türkischen Gegenwartsliteratur. Im Anschluss war sie unter anderem als Dozentin für deutsche Literatur, Literaturtheorie und Wissenschaftsgeschichte an der Marmara Universität in Istanbul beschäftigt.
Diese Reihe stellt innovative Arbeiten zu den nahöstlichen Literaturen in ihren verschiedenen Epochen und Gattungen vor. Sie versteht sich nicht ausschließlich als ein Forum für Orientwissenschaftler, sondern möchte auch Komparatisten, Literaturwissenschaftlern und einer interessierten Öffentlichkeit Einblicke in das breite Spektrum gegenwärtig produzierter und rezipierter Literatur des Nahen Ostens bieten.
Denn die Herausgeberinnen, Autorinnen und Autoren wollen den Titel der Reihe programmatisch verstanden wissen. Sie gehen von einem Begriff der Weltliteratur aus, der die orientalischen Literaturen nicht nur statisch einbegreift, sondern sie in ein Kulturregionen und Nationalsprachen übergreifendes Spannungsfeld stellt, dessen Dynamik erst im interdisziplinären Austausch erfasst werden kann. Sie gehen ferner davon aus, dass Literaturen in vielfacher Weise intertextuell geprägt sind, dass sie Lektüren verschiedenster vorausgehender Texte darstellen und daher erst in ihrem „lokalen historischen Kontext“ ihren Reiz als Ausdruck einer regional geprägten Ästhetik entfalten können. Die Reihe versucht so, einer neuen Sensibilität für mythische, archetypische, aber auch historische Subtexte in der nahöstlichen Literatur Bahn zu brechen, sie aber gleichzeitig als wichtigen Ausdruck einer globalen kulturellen Mobilität sichtbar zu machen.