Exkurse setzen im mittelalterlichen höfischen Roman die Ordnung des Erzählens aus, indem der Erzähler eine alternative Sprechhaltung annimmt und sich meist direkt an sein Publikum wendet. Im Laufe der Gattungsgeschichte prägen sich inhaltliche Konventionen und Stilmerkmale des Exkurses aus, die die Studie über exemplarische Analysen von den Romanen Hartmanns von Aue bis zu Minne- und Aventiureromanen um 1300 analysiert und zu einer Poetik des Exkurses verdichtet. Es zeigt sich, dass der Exkurs in einem artistisch kompetenten höfischen Erzählen ein zentrales Darstellungsmittel ist.
Ein Exkurs ist, wenn man den Begriff wörtlich nimmt, eine Abschweifung, ein Abweichen vom regulären Cursus der Erzählung. Im Exkurs nimmt der Erzähler eine alternative Sprechhaltung an, in der er – meist in direkter Ansprache an sein Publikum – über Themen reflektiert, die von der Erzählung angeregt werden. Als eine generische Transgression, als ein Überschreiten des romanhaften Erzählens hin zur alternativen Aussageform der Reflexion ist der Exkurs in jedem – auch außerliterarischen – narrativen Sprechen mit einer ausgewiesenen Erzählerposition angelegt. Im volkssprachigen Roman des Mittelalters ist der Exkurs seit seiner anfänglichen Verwendung bei Chrétien de Troyes ein zentrales Mittel der erzählerischen Gestaltung und trägt als Transgression des Narrativen in die Reflexion elementar zur literarischen Sinnbildung bei. Im Modus des Wiedererzählens wird der Exkurs zunächst als regelpoetisches Verfahren einer dilatatio materiae der französischen Vorlage eingesetzt, entwickelt sich aber schnell zu einer elaborierten Darstellungsform. Vor allem im deutschsprachigen Raum wird der Exkurs seit Hartmann von Aue zu einer literarische Mode, die von den hochhöfischen Autoren um 1200 anregungsreich fortgeschrieben wird und sich um 1300 schließlich einem experimentierenden Umgang öffnet, als die Gattung des höfischen Versromans mit den Minne- und Aventiureromanen noch einmal aufblüht, um dann zu enden. Während die Forschung die Exkurse bislang ausschließlich in Einzelwerkinterpretationen analysiert hat, nimmt diese Studie in einer Typologie der Exkurse eine das Einzelwerk übersteigende Perspektive ein. Sie weist den Exkurs in der Zusammenschau mehrerer Romane, die über drei Zeitschnitte organisiert sind, als eigenes literarisches Register aus und versucht, ihn in seinem Funktionieren und seiner diskursiven Qualität herauszustellen.
Die Exkurse etablieren als Inseln der Reflexion ein vertieftes Nachdenken über die erzählte Handlung und werden gezielt als Modus eines reflektierenden Sprechens, als ein spezifischer Habitus des Erzählers eingesetzt. Im Laufe der Gattungsgeschichte des höfischen Romans prägen sich inhaltliche Konventionen und Stilmerkmale des Exkurses aus, die die vorliegende Studie exemplarisch analysiert und zu einer Poetik des Exkurses im höfischen Roman verdichtet. Es zeigt sich, dass der Exkurs in einem artistisch kompetenten höfischen Erzählen ein zentrales Register darstellt, das eine eigene literarische Tradition entwickelt und den höfischen Roman zur Reflexion öffnet.
„Sandra Lindens außerordentlich umfangreiche, mehr als 600 Seiten umfassende Habilitationsschrift ist das Ergebnis langer und sorgfältiger Arbeit, und diese Sorgfalt und Mühe merkt man dem Buch in sehr positivem Sinne deutlich an. Der Band ist in zwei Teile untergliedert: am Anfang stehen umfangreiche Überlegungen zum Exkurs aus theoretischer Perspektive, angeschlossen wird ein Analyseteil, der auf fast 500 Seiten nicht weniger als sechs Romane und ihre Exkurse abhandelt. (...) Insgesamt bietet Sandra Lindens Habilitationsschrift eine ausgewogene, umsichtige Analyse der Exkurse im mittelhochdeutschen Roman. Das Buch offeriert wichtige neue Deutungsansätze, die narratologisch, rezeptionsästhetisch, wissensgeschichtlich und mit Blick auf die Emotionstheorie weiter fruchtbar gemacht werden können. Das macht die Arbeit zu einer wichtigen Grundlage zukünftiger Forschung: Wer auf der Höhe der Zeit, der Methodologie und der mediävistischen Kenntnis über den Exkurs im Roman handeln will, kommt an Lindens Arbeit als Standardwerk nicht vorbei.“
Von Stefan Seeber
In:
https://literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=24635
Sandra Linden
Werdegang: Studium der Germanistik, Geschichte und Philosophie in Aachen, Köln und Tübingen, Promotion in Tübingen 2004, Habilitation in Tübingen 2015
derzeitige Tätigkeit: akademische Rätin am Deutschen Seminar der Universität Tübingen
Forschungsschwerpunkte: Literatur des Hochmittelalters, Narratologie, Kommunikationstheorie, höfischer Roman, Personifikationen, Versnovellistik, Frauenmystik
Die „Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters“ (MTU) sind eine international hochrenommierte Reihe der germanistischen Mittelalterforschung. Sie stellt ausgewählte editorisch und methodisch-analytisch orientierte Arbeiten von Fachkollegen aus dem In- und Ausland für die wissenschaftliche Öffentlichkeit bereit. Publikationssprachen sind Deutsch und Englisch. Die Reihe versteht sich als Forum für Publikationen zur Grundlagenforschung (Editionen, Untersuchungen zur Überlieferungs- und Textgeschichte, Standardrepertorien aus den Bereichen der material philology) wie auch für analytische Beiträge zur aktuellen Methodendiskussion anhand exemplarischer Untersuchungen.