Die Erzählung vom Untergang Trojas ist - und war schon im Mittelalter - eine beliebte und vielerzählte Geschichte und das tragische Ende des Krieges zwischen Griechen und Trojanern kann als im kulturellen Gedächtnis verankert gelten. Konrad von Würzburg allerdings erzählt diese Geschichte in seinem Roman aus dem 13. Jahrhundert immer wieder zukunftsoffen, indem beispielsweise Fortuna das Schicksal von Figuren in zunächst unerwartete Richtungen lenkt oder Protagonistinnen in langen Monologen wichtige Entscheidungen abwägen. Diese spannende Form der literarischen Reflexion über die Ungewissheit der Zukunft (bzw. Kontingenz) ist Gegenstand der vorliegenden Studie zum Trojanerkrieg.
„Immer wenn der Mensch anfängt, seine Zukunft zu planen, fällt im Hintergrund das Schicksal lachend vom Stuhl.“ Dieser Satz, der als Redensart in unseren täglichen Sprachgebrauch eingegangen ist und sich auf zahlreichen Postkarten findet, illustriert das Bewusstsein darüber, dass die Zukunft offen ist und sich nur begrenzt planen und beeinflussen lässt. Das Nachdenken über diese menschliche Grunderfahrung ist von einer bemerkenswerten kulturellen und historischen Konstanz. Von den Texten Homers und der griechischen und römischen Philosophie und Literatur, über die Kirchenväter und mittelalterlichen Dichter bis heute, wird in Texten und anderen Medien immer wieder reflektiert, welchen Einfluss Menschen auf ihre Zukunft haben und wie Schicksalsschläge oder Zufälle das Leben beeinflussen. Wie wir die Umstände bewerten, ob das Erlebte als Glück oder Unglück empfunden wird, hängt dabei stets von jeweiligen Perspektiven und Kontexten ab.
In der Geschichte vom Trojanischen Krieg wird dem Schicksal traditionell eine wichtige Rolle beigemessen, aber auch die Figuren können das Geschehen durch ihre Entscheidungen aktiv beeinflussen. Der antike Mythos wirft damit die grundlegende Frage nach der Vereinbarkeit von Schicksalsfügung und menschlicher Handlungsmacht auf. Fest steht zwar immer, wie die Geschichte für die Trojaner endet: Mit dem Tod ihrer Krieger und der Zerstörung der Stadt. Die Faktoren, die dazu führen, sind jedoch vielfältig und werden besonders bei Konrad von Würzburg farbenfroh und detailliert beschrieben und erwecken dadurch in der Erzählung immer wieder den Eindruck, dass die Geschichte offen ist. Immer wieder kommt es vor, dass der Erzähler kommentiert, die Geschichte hätte einen anderen Verlauf genommen, wenn hier nicht das Schicksal eingegriffen hätte oder dort eine Entscheidung anders ausgefallen wäre
Indem auf diese Weise über mögliche Zukunftsoptionen spekuliert wird oder vermeintliche Alternativen der Handlung geboten werden, lotet der Erzähler immer wieder die Grenzbereiche des stofflichen Telos aus. Zwei Darstellungsweisen tragen dabei im Trojanerkrieg besonders zur Vermittlung von Offenheit und Zukunftsungewissheit bei. Zum einen werden immer wieder langwierige Prozesse der Entscheidungsfindung verschiedener Figuren beschrieben, zum anderen Situationen, in denen Zufälle oder eine göttliche Macht das Geschehen bestimmen. Die Rezipierenden werden dadurch – so eine zentrale These dieser Arbeit – mit Zukunftsoffenheit und mit dem Unvorhergesehenen, der Kontingenz, konfrontiert und die Spannung zwischen Erwartung und Erfahrung bleibt selbst in einer Geschichte, in der sowohl der Plot als auch die Handlungen der Figuren als bekannt vorauszusetzen sind, erhalten. Dadurch wird an Erzähltraditionen festgehalten, während zugleich Zukunftsungewissheit bzw. Kontingenz evoziert wird. Providenz erscheint also immer wieder im Lichte der Kontingenz. Einen wichtigen kulturgeschichtlichen Kontext bildet die mittelalterliche Vorstellung, dass alle Menschen einen freien Willen haben, während gleichzeitig unbeeinflussbare Faktoren wie der göttliche Wille und der Zufall (häufig im Zusammenhang mit der Minne) das Geschehen lenken können.
Das Erzählen von Kontingenz dient dabei sowohl für die Figuren als auch für die Rezipierenden zur Reflexion über verschiedene Möglichkeiten des Zukünftigen. Obgleich davon auszugehen ist, dass die Rezipierenden wissen, was am Ende eintreten wird, liefern die Passagen, die eine offene Zukunft postulieren, die notwendige Folie, vor der die Bedeutung des ‚wirklichen‘/historischen Geschehens reflektiert und erkannt werden kann. Zugleich ermöglichen sie den Rezipierenden, sich ihres eigenen Standpunkts in der Geschichte bewusst zu werden. Dabei kann je nach Standort der Betrachtenden ein Ereignis stets als kontingent oder notwendig erscheinen: Für die Figuren der Erzählung ist es kontingent, für die Rezipierenden (und teilweise auch den Erzähler) erscheint es notwendig. Ebenso verhält es sich mit der Einschätzung einer Situation. Während die Figuren beispielsweise annehmen, dass sie Glück haben, beurteilt der Erzähler, dass es sich eigentlich um Unglück handelt oder umgekehrt. Nicht zuletzt dieser Perspektivenreichtum, den der ‚Trojanerkrieg‘ zahlreich entfaltet und den das vorliegende Buch untersucht, zeugt von hohem literarischem Reflexionsniveau und ermöglicht den Rezipierenden, den Zusammenhang zwischen Möglichkeit und Notwendigkeit und die Erfahrungshaftigkeit von Geschichte zu überdenken.
Isabella Managò
2008 – 2009 Studentin am Leibniz-Kolleg in Tübingen (Studium Generale)
2009 – 2015 Studium an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg: Latein, Germanistik, Geschichte
(Staatsexamen in den Fächern Germanistik und Geschichte)
Zulassungsarbeit bei Prof. Dr. Ludger Lieb zu dem Thema: ‚Textimmanente Bauminschriften von der Antike bis zur Barockzeit‘
2016-2020 Promotion zum Thema ‚Kontingenz im Trojanerkrieg Konrads von Würzburg‘.
Betreuung: Prof. Dr. Tobias Bulang (Heidelberg) und Prof. Dr. Regina Toepfer (Würzburg)
01.04.16 – 01.12.17 Wissenschaftliche Mitarbeiterin bei Prof. Dr. Tobias Bulang im Editions- und Kommentarprojekt zu Johann Fischarts Übertragung von Jean Bodins Daemonomania Magorum
01.07.16 – 30.09.19 Assoziiertes Mitglied des literaturwissenschaftlichen Promotionskollegs ‚Was ist Tradition? Zu Genese, Dynamik und Kritik von Überlieferungskonzepten in den westeuropäischen Literaturen‘
01.09.17 – 30.9.20 Promotionsstipendiatin der Landesgraduiertenförderung Baden-Württemberg
seit 01.10.20 Wissenschaftliche Mitarbeiterin (Post-Doc) bei Prof. Dr. Julia Zimmermann an der Karl-Franzens-Universität Graz