Georgien fasziniert durch seine Vielfalt: Zwischen Schwarzmeerküste und Kaukasusgipfeln, zwischen regenfeuchten Waldländern und trockenen Steppen, zwischen üppiger Kulturvegetation und kargen Weideländern bestehen ähnlich viele Variationen wie zwischen der lebhaften Hauptstadt Tbilisi und entlegenen Dorfsiedlungen, zwischen Gewinnern der postsowjetischen Transformation und verarmten Kleinbauern, zwischen dynamischen Tourismuszentren und Relikten untergegangener Industriebetriebe. Es ist ein Land, dessen geschichtliche Erfahrungen innere Geschlossenheit, aber auch Zerfall in kleine Territorialherrschaften und Fremdherrschaften umfassen, ein Land, das mit Stolz seine eigenen Traditionen bewahrt, sich aber auch modernen Kulturströmungen öffnet. Und ein Land, das seine Zukunft zwischen wirkmächtigen Einzelpersönlichkeiten und parlamentarischer Demokratie noch sucht.
Das nach Fläche und Einwohnerzahl relativ kleine Land Georgien zieht in vielfacher Hinsicht die Aufmerksamkeit auf sich, wie bereits ein kurzer Blick auf einige wenige Aspekte erkennen lässt. So zeigen die Naturräume eine außerordentliche Vielfalt, die vom überaus regenfeuchten Kolchistiefland bis zur fast wüstenhaften Shiraki-Steppe, von eisbedeckten Kaukasusgipfeln zu Flachländern und fruchtbaren Beckenlandschaften reicht. Dabei sind Erdbeben, Lawinenabgänge, Sturzfluten natürliche Risiken, die zu Katastrophen mit hohen Verlusten führen können. Das heutige Territorium, das derzeit mit dem Verlust der hoheitlichen Kontrolle über Abchasien und Südossetien leben muss, blickt auf eine historische Entwicklung zurück, welche Zeiten gemeinsamer Staatlichkeit, aber auch solche territorialer Zersplitterung und belastender Fremdherrschaft sah. Phasen kultureller Blüte und wirtschaftlicher Prosperität standen immer wieder Zeitabschnitte gegenüber, in denen das Land Niedergang und massive Zerstörungen der Kulturlandschaft erlebte. Aber kulturelle Anker wie die georgische Sprache und Schrift oder wie die Zugehörigkeit der Georgier zur eigenständigen georgisch-orthodoxen Kirche helfen wirkmächtig gegen Niedergang und Zerstörung. Dabei ist Georgien ist nicht nur das Land der Georgier: Ethnisch-sprachliche Minderheiten wie die Armenier im Süden oder die Aserbaidschaner im Südosten verlangen Anerkennung und Mitbestimmung in einer Gesellschaft, die an Traditionen hängt, aber demographische Verluste hinnehmen musste. Die Abspaltung zweier Territorien, Abchasiens und Südossetiens, bewirkte Flüchtlingsströme, die bis heute nicht bewältigt werden konnten. Auch das Siedlungssystem weist Besonderheiten auf: Es ist durch die demographische und ökonomische Primatstellung der Hauptstadt Tbilisi geprägt, die sich seit der Mitte des 19. Jahrhunderts zu einem weltoffenen Zentrum entwickelte. Doch gibt es daneben ausgedehnte periphere Räume, die auch heute ein Eigenleben in der Abgeschiedenheit zu haben scheinen. Man muss genau hinschauen: Auch im ländlichen Raum haben sich bauliche Zeugen der Vergangenheit wie Kirchen und Festungen erhalten. Vier Welterbestätten (die frühere Hauptstadt Mtskheta, die mittelalterliche Kloster-Akademie Gelati bei Kutaisi, das Ensemble von Hochgebirgssiedlungen mit trutzigen Wohn- und Wehrtürmen im svanetischen Ushguli und der Naturraum des Kolchis-Nationalparks) stellen nicht nur Aufgaben hinsichtlich des Erhalts, sondern gehören auch zum Potential für einen Tourismus, der als einer der wichtigsten Wirtschaftsfaktoren gesehen wird. Ökonomisch hat das Land in den letzten Jahren besonderen Wert auf den Ausbau der Verkehrs- und Energieinfrastruktur gelegt, während die Industrie noch immer unter den Verlusten leidet, die bei der Auflösung der Sowjetunion entstanden waren. Auch die Landwirtschaft, in sowjetischer Zeit wegen der Knappheit subtropischer Eignungsräume besonders betont, aber einseitig entwickelt, fängt erst an, ihre frühere Bedeutung wiederzuerlangen. Zu diesen sehr unterschiedlichen Facetten, die das Land zeigt, kommen politische Herausforderungen: Ob der Weg zur Mitgliedschaft in der Europäischen Union oder zu größerer Abhängigkeit von Russland führt, ist nicht entschieden, und die Überwindung der Folgen von sowjetzeitlichen Verwerfungen und ökonomischer Transformation ist noch nicht abgeschlossen. Das Buch versucht, die genannten Aspekte im Zusammenhang zu sehen, und möchte gleichzeitig mit reichem Bildmaterial eine faszinierende Vielfalt illustrieren, die Besucher des Landes entdecken können – als Touristen ebenso wie als Politiker oder Wirtschaftsfachkräfte oder aber als Gäste bei Bewohnern, zu deren Werten die Gastfreundschaft gegenüber dem Fremden gehört.
Jörg Stadelbauer, Jahrgang 1944, studierte in Freiburg Geographie, Geschichte und Lateinische Philologie. 1972 wurde er mit einer Untersuchung zum Eisenbahnbau in Turkmenistan promoviert, 1979 habilitierte er sich mit einer Arbeit zur Agrargeographie Südkaukasiens. Nach der Berufung auf eine Zeitprofessur und der Wahrnehmung eines Heisenbergstipendiums der Deutschen Forschungsgemeinschaft wurde er 1987 nach Mainz berufen. 1991 nahm er den Ruf auf die ordentliche Professur für Kulturgeographie und Landeskunde an der Universität Freiburg an. 2009 erfolgte der Eintritt in den gesetzlichen Ruhestand. Eine Vertretungsprofessur nahm er in Tübingen wahr, Gastprofessuren in Basel, Berlin (Humboldt-Universität), Bern und Moskau. In seinen Arbeiten beschäftigte er sich mit Fragen der Agrar-, Stadt-, Verkehrs- und politischen Geographie der Sowjetunion und ihrer Nachfolgestaaten sowie mit Arbeiten zur historischen Geographie und Landeskunde Südwestdeutschlands und Ostfrankreichs.