Auf der Grundlage der Enzyklopädie „Liber de natura rerum“ des Dominikaners Thomas von Cantimpré wurde im 13. Jahrhundert von einem anonymen Redaktor die sog. ‘Thomas-III’-Version gefertigt. Aus Interesse an den Naturdingen selbst hat er das vorgefundene Material exzerpiert, neu aufbereitet und in 20 Bücher mit eigenwilliger Abfolge umarrangiert. Die Fülle der überlieferten Handschriften seiner Bearbeitung dokumentiert das außerordentlich große mittelalterliche Interesse an dieser Form von Naturkunde, die nicht mehr vorwiegend geistlich orientiert war.
Der Band bietet eine rekonstruierende Textedition, ergänzt durch textkritisch-stemmatologische Ausführungen und ausführliche Handschriftenbeschreibungen.
Unter der Bezeichnung 'Thomas III' läuft eine um 1250 verfasste und vor allem im bayerisch-österreichischen Raum verbreitete Naturkunde-Enzyklopädie in lateinischer Sprache. Das Werk basiert auf den Fassungen von 'De natura rerum' des Thomas von Cantimpré (ca. 1201 – ca. 1270) und stellt sich als dritte neben seine authentischen Redaktionen (‘Thomas I’, 'Thomas II'; ed. Helmut Boese 1973), ohne von Thomas selbst zu sein. ‘Thomas III’ wählt aus Thomas I-II aus, fügt Material aus weiteren Quellen hinzu, arrangiert die Buchanordnung um und modifiziert den Text. Die Summe dieser Eingriffe vermittelt den Eindruck lebhaften Interesses an naturkundlichem Wissen und gibt – im Zusammenspiel mit der Erforschung der Handschriftenbesitzer – Aufschluss über die Rezipienten des Werks. Hinsichtlich der Naturkunde belegt ‘Thomas III’ einen Mentalitätswandel: die 'Neugier' richtet sich auf die Dinge selbst und betrachtet nicht – wie noch im 12. Jahrhundert – Naturgegenstände vorwiegend als Ausgangsmaterial für geistliche Deutung. Diese neue Sicht auf die Natur ist ähnlich in den großen Enzyklopädien des 13. Jahrhunderts (Thomas I-II, Bartholomäus Anglicus, Vincenz von Beauvais) greifbar, von denen ‘Thomas III’ der Benutzerkreis unterscheidet. Die Leser der erstgenannten sind Universitätsgelehrte, die von ‘Thomas III’ der Klerus in vielfältigen Abstufungen - vom Kardinal über Klostergeistliche (dominant) bis zum Weltgeistlichen -, wie auch - in bescheidenerem Umfang – Laien, hier v.a. vom Humanismus geprägte prominente Mediziner, wie Helgard Ulmschneider in der Analyse des Handschriftenbestands herausarbeitet. Damit hat das neue Bewusstsein die intellektuelle 'middle class' erreicht, die dann ihr Weltinteresse und Wissen in Übersetzungen an ein Laienpublikum weitergibt. Diese Beobachtungen sind ein wichtiger Beitrag zur Bildungsgeschichte des Spätmittelalters. Für literaturtheoretische Fragestellungen erlaubt es die Ausgabe, die Sequenz der Redaktionen, die unterschiedliche Intentionalität der Redaktoren, das Spiel von Vorlagentreue und Varianz zu verfolgen. Der für Veränderungen freigegebene mittelalterliche Fachtext wird dabei keineswegs 'autorlos'. Er zeigt sich vielmehr als Produkt einer Mehrzahl von Autoren, deren jeweilige Eigenart erkennbar und bestimmbar ist. Die Entstehungsanalyse dieses Komplexes und ähnlich gelagerter Fälle liefert Argumente in der Diskussion, ob und in wieweit der Verzicht auf den Autorbegriff für das Verständnis mittelalterlicher Texte hilfreich sein kann. Bei der Wirkungsgeschichte von Thomas III tritt neben die enorme Verbreitung auch vielfältige literarische Rezeption. Beispielhaft sei auf die erste Naturenzyklopädie in deutscher Sprache, Konrads von Megenberg 'Buch der Natur' verwiesen. Er folgt Thomas III als Hauptquelle oft so genau, dass sich bestimmen lässt, welche Redaktion er im jeweiligen Kapitel heranzieht. Für die Beurteilung der Eigenleistung Konrads (und anderer volkssprachiger Rezipienten) ist ‘Thomas III’ in der nun vorliegenden Ausgabe unverzichtbar.
„Cette édition satisfait un desideratum de longue date. [...] [N]ous ne pouvons que féliciter les responsables du travail accompli. Nous sommes d’avis que Vollmann, décédé en 2012, aurait été satisfait du présent résultat et que cette édition ne fait qu’accroitre son renom dans le monde scientifique, visée que Déus et Weigand expriment explicitement dans leur préface.“
Von: M. Schmitz
Aus: Scriptorium 2018-2, p. 170-172 (Bulletin Codicologique)
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„Mit seiner Edition haben sich Vollmann und sei [sic] Team, unter anderem Angelika Strauß und Helgard Ulmschneider, später Janine Deus und Rudolf Weigand, der von Vollmann 2012 die Leitung übernahm, große Meriten erworben.“
Von Walter Buckl
Benedikt Konrad Vollmann (†)
*1933, † 2012, Studium der Philosophie, Theologie, Germanistik, Klass. Philologie und Lateinischen Philologie des Mittelalters, Dr. theol. 1963, Staatsexamen 1967, wiss. Assistent 1967-1973, Akad. Rat 1973-1988, Lehrstuhlinhaber für Lateinische Philologie des Mittelalters an der Kath. Universität Eichstätt-Ingolstadt 1988-1993, Lehrstuhlinhaber für Lateinische Sprache und Literatur des Mittelalters an der Ludwig-Maximilians-Universität München 1993 bis zur Entpflichtung 1999; wichtige Editionen (Ruodlieb 1985, Carmina Burana 1987, Frühe deutsche und lateinische Literatur des Mittelalters 1991, Petrus de Crescentiis 2007/08), weitere zahlreiche Publikationen zur Enzyklopädik, Handschriftenkunde und Paläographie des Mittelalters
Rudolf Kilian Weigand
*1955, Studium der Germanistik, Geschichte, Geographie und Rechtswissenschaft an der Universität Würzburg 1977-1983, Staatsexamen 1983, Wiss. Mitarbeiter KU Eichstätt 1983-1987, Dr. phil. 1987, Wiss. Assistent 1988-1994, Habilitation 1994, Oberassistent 1995-1998, Wiss. Mitarbeiter Forschungsprojekte 1999-2000, Lehrstuhlvertretung 2000-2002, seit 2001 apl. Prof. für Germanistische Mediävistik an der Kath. Universität Eichstätt-Ingolstadt, Direktor und Leiter der Forschungsstelle für „Geistliche Literatur des Mittelalters“ (FGLM); Forschungsschwerpunkte: Mittelalterliche Enzyklopädik, Predigten und Predigtliteratur, Rechtsschrifttum und mittelalterliche Handschriftenkunde
Janine Déus
*1957, Studium der Lateinischen Philologie und Geschichte in Hamburg 1982-1992, M.A. wiss. Mitarbeiterin DFG-Projekte, Dr. phil. 1999, wiss. Mitarbeiterin DHI Paris, derzeit wiss. Mitarbeiterin Kath. Universität Eichstätt-Ingolstadt
Helgard Ulmschneider
*1941, Studium der Geschichte und Germanistik in Freiburg, Mainz und Würzburg, Dr. phil 1973, wiss. Mitarbeiterin der DFG-Projekte ‚Prosa des deutschen Mittelalters‘ (Würzburg) 1973-1984 und des Sonderforschungsbereichs 226 (Würzburg/Eichstätt) 1984-1994, Lehrbeauftragte der Universität Heidelberg 1982-2000. Publikationen v.a. zu deutschsprachiger kanonistischer Literatur des Mittelalters (Rechtssumme Bruder Bertholds), Überlieferungs- und Wirkungsgeschichte mittelalterlicher Wissenstexte (Deutscher Lucidarius), adeligen Autobiographien der Frühen Neuzeit (Editionen: Götz von Berlichingen, Wilwolt von Schaumburg)