Der ‚Welsche Gast‘ Thomasins von Zerclaere ist eine um 1215/16 entstandene, mit einem umfangreichen Bilderzyklus ausgestattete mittelhochdeutsche Verhaltenslehre. Der Text kann auf den ersten Blick als zusammengewürfeltes Sammelsurium an Einzelermahnungen erscheinen, unterfüttert mit Einspielungen aus enzyklopädischen Wissensbeständen. Die vorliegende Untersuchung zeigt, dass sich die zahlreichen Einzelermahnungen bei genauerem Hinsehen zu einem planvoll aufgebauten, zusammenhängenden Ganzen verbinden, das darauf zielt, beim Rezipienten Erkenntnisprozesse einzuleiten.
Der ‘Welsche Gast’ Thomasins von Zerclaere, entstanden um 1215/1216, stellt die erste umfangreiche mittelhochdeutsche Verhaltenslehre dar. Der Text ist in 15 von 25 Handschriften mit einem Bilderzyklus ausgestattet. In den letzten Jahrzehnten hat vor allem dieser Bilderzyklus das Interesse der Forschung geweckt. Dies hatte zur Folge, dass auf den Text überwiegend punktuell zugegriffen wurde und der Text als Ganzes aus dem Blick geriet. In älteren Forschungsarbeiten wiederum galt die Aufmerksamkeit beinahe ausschliesslich dem Text, kaum den Bildern. In diesen Arbeiten wird der ‘Welsche Gast’ zudem oft nicht als die höfische Verhaltenslehre verstanden, die er ist und sein will. Daher gerieten nicht selten Ungereimtheiten und die scheinbare Disparatheit des Texts in den Fokus.
In der vorliegenden Untersuchung werden Text und Bild im Hinblick auf das didaktische Ziel der moralischen Besserung der Rezipienten untersucht. Das Augenmerk liegt auf dem didaktischen Prozess, der von Thomasin orchestriert wird: Auf Passagen, die eng an höfische Erfahrungshorizonte anknüpfen, folgen im ‘Welschen Gast’ Passagen, in denen sich globale, diagrammatische Perspektiven auf die conditio humana eröffnen. Dabei springt Thomasin keineswegs vollkommen willkürlich von einem Thema zum nächsten, sondern baut seine Lehrinhalte sorgfältig auf, steuert auf Kulminationspunkte zu, um kurz darauf Modellhaftes wieder mit der erfahrbaren Wirklichkeit zu verbinden. Im Wechsel zwischen Erfahrung und Struktur werden so Neubeurteilungen der höfischen Wirklichkeit eingeleitet, die Rezipienten sind aufgefordert, an Welt- und Selbstbild zu arbeiten.
Das skizzierte Verfahren wird in der Untersuchung auf dem Hintergrund mittelalterlicher Theorien zum Prozess des Erkennens konturiert. Die Arbeit zeigt auf, wie im ‘Welschen Gast’ diagrammatische Techniken aus gelehrtem Umfeld für ein Laienpublikum adaptiert werden. Bei der Untersuchung und Beschreibung des Verfahrens wird laufend auch der Bilderzyklus in die Überlegungen einbezogen. Dabei wird deutlich, dass der Bilderzyklus dieses Verfahren stützt und verstärkt: Die Bilder dienen einerseits dazu, Inhalte sehr eng an höfische Erfahrungshorizonte anzuschliessen, andererseits werden Bilder (z.B. in Form von Diagrammen und Schemazeichnungen) genutzt, um einen übergreifenden Zugriff auf die Wirklichkeit zu bieten.
Vera Jerjen, geboren 1984 in Brig/CH, Studium der Germanistik und der Geschichte in Freiburg/Schweiz, MA 2009, Promotion 2015. Zurzeit Projektleiterin und Redakteurin beim Klett und Balmer Verlag.
Die Buchreihe „Scrinium Friburgense“ umfasst Editionen, Monographien und Kolloquiumsbände aus allen Bereichen der Mediävistik, von der Kodikologie, Paläographie und Epigraphik über die mittelalterliche Geschichte, Philosophie- und Kunstgeschichte und die lateinische, deutsche, englische, französische, italienische und spanische Literatur des Mittelalters bis zur Byzantinistik. Besonders willkommen sind Arbeiten interdisziplinären Zuschnitts.