Amicus und Amelius galten in der mittelalterlichen Literatur als ideales Freundespaar. In den Erzählungen über die beiden Freunde geht es um die Bedeutung von Treue im christlichen Glauben, um das Freundschaftsideal sowie um das Verhältnis von Freundschaft und Verwandtschaft.
Die Autorin präsentiert die drei Haupttexte in einer lateinisch-deutschen Ausgabe und erschließt interpretatorisch die Bezüge zu Roland, Karl dem Großen und dem Heiligen Jakobus. Darüber hinaus untersucht sie die rezeptionsgeschichtliche Dynamik der mehrsprachigen Erzähltradition um Amicus und Amelius von den ersten chronikalen Erwähnungen bis hin zum ›Engelhart‹ Konrads von Würzburg.
Amicus und Amelius galten in der mittelalterlichen Literatur als Inbegriff der Freundschaft. Sie sehen einander zum Verwechseln ähnlich, stehen in mehreren Krisen bedingungslos füreinander ein und sterben gemeinsam. Doch die mehrsprachige, jahrhundertealte Erzähltradition ihrer Freundschaftstreue weist zugleich Ambivalenzen auf. Die radikalen Entscheidungen, dass Amicus wegen der heimlichen Liebe des Freundes zur Königstochter im Gerichtskampf einen Mann tötet und Amelius für die Heilung des kranken Freundes die eigenen Kinder opfert, werden in den Texten jeweils anders perspektiviert.
Die Autorin präsentiert die drei Haupttexte dieser Erzähltradition in einer lateinisch-deutschen Ausgabe. Sie differenziert in drei Fallstudien die je verschiedenen Spannungen zwischen dyadischer Freundschaft, deren Relation zur Gesellschaft sowie der christlichen Religion und ordnet sie in ihr literaturhistorisches Umfeld ein.
Die Ergebnisse der Fallstudien zeigen, dass Rolands Martyrium wesentlich zum Verständnis der lateinischen Amicus und Amelius-Tradition beiträgt. Denn die Gerechtigkeit des durch Gott legitimierten Krieges aus der Roland-Tradition wird mit dem Freundschaftsideal von Amicus und Amelius verschränkt. Die Autorin diskutiert diesen Zusammenhang mittels überlieferungsgeschichtlicher, poetologischer und kulturhistorischer Argumente.
Für die Erschließung der rezeptionsgeschichtlichen Dynamik fügt die Autorin eine komparatistisch breit angelegte Übersicht von Werken des 12. bis 15. Jahrhunderts hinzu. Während sich die historiographischen und pastoral-theologischen Texte einerseits weiterhin an die lateinische hagiographische Tradition anschließen lassen, resultiert andererseits bereits aus ihrer Übertragung in andere Sprachen und Kulturräume eine unterschiedlich breite Varianz auf semantischer, struktureller und handlungslogischer Ebene.
Die volkssprachlichen Adaptationen hingegen stehen in ihrer Art des »Wiedererzählens« quer zur lateinischen Tradition: Jedes dieser Werke hat eine eigene Intention, konzentriert sich auf die dafür geeigneten Handlungskerne der Materia und tilgt weitere Aspekte. Die unterschiedlich akzentuierenden Werke spitzen die Treue von Amicus und Amelius dabei entweder episch oder geistlich zu. So demonstriert die Autorin Verbindungslinien sowohl zu den frommen Pilgern der ›Jakobsbrüder‹ als auch zu den tapferen Rittern der ›Chanson d’Ami et Ami‹ oder des höfischen ›Engelhart‹ Konrads von Würzburg.
Die vorliegende Erschließung der Werke über Amicus und Amelius in ihrer jeweiligen kontextuellen Einbindung lässt ihre Komplexität erst sichtbar werden und bietet interdisziplinär neue Perspektiven auf diese facettenreiche mittelalterliche Erzähltradition.
„Die Untersuchung [...] widmet sich der Stoff-, Diskurs- und Rezeptionsgeschichte der in ganz Europa verbreiteten legendarischen bzw. historiographischen Amicus und Amelius-Tradition. Im Zentrum stehen dabei drei lateinische Texte: die unikal überlieferte Epistula ad Bernardum des Rodulfus Tortarius (11. Jh.), die weit verbreitete Vita Sanctorum Amici et Amelii (12. Jh.) und deren Versifikation, ein Carmen amicitie (13. Jh.), das nur aus einer Handschrift bekannt ist. Teil II der Untersuchung bietet hochwillkommene krtitische Editionen dieser drei Texte samt Übersetzungen. Die Verf. arbeitet zuvor umfassend deren historische Hintergründe und kontextuelle Einbettung sowie die ihnen inhärenten (literarischen) Diskurse auf.
[...] Lena Oetjens Studie wird in Zukunft wegen ihrer gründlichen und zuverlässigen Aufarbeitung des gesamten Amicus und Amelius-Komplexes für entsprechende Forschungen immer zu berücksichtigen sein.“
Von: Bernd Bastert
In: Germanistik. Internationales Referatenorgan mit bibliographischen Hinweisen, Band 57 (2017), Heft 3-4, S. 4337.
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„Die literaturwissenschaftliche Untersuchung der verschiedenen Texte ist geprägt von der Präsentation verschiedener Überlieferungszusammenhänge, wobei Oetjens neue Kontexte für die Forschung eröffnet. Rezeptionsgeschichtliche Phänomene und Hintergründe werden mit philologischer Akribie dargeboten. Wie diese Ergebnisse an kulturwissenschaftliche Fragestellungen anzuschließen ist, wird sich in Zukunft zeigen.“
Von Silke Winst
In: Arbitrium 2019, 37(2), S. 176-178
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„Es sind also die entscheidenden inhaltlichen Impulse von ,Amicus und Amelius im lateinischen Mittelalter’, welche die Studie von Oetjens empfehlenswert machen und welche die weitere Forschung zu diesem extraordinären Freundschaftspaar zu berücksichtigen hat.“
Von Manuel Hoder
In: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 1/2020, S. 99-104
Dr. Lena Oetjens, geb. 1983, studierte Germanistik und Psychologie an der Technischen Universität Braunschweig sowie Mittel- und Neulatein an der Universität Erlangen. Seit 2011 ist sie am Deutschen Seminar der Universität Zürich tätig. Ihr Forschungsinteresse gilt dem Verhältnis von mittelhochdeutscher und mittellateinischer Literatur sowie der Handschriftenkultur. Gegenwärtig forscht sie als Mitarbeiterin in der Berliner Forschergruppe »Diskursivierungen von Neuem. Tradition und Novation in mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Texten« zu Novationsdynamiken im spätmittelalterlichen Liebesdiskurs.
Die „Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters“ (MTU) sind eine international hochrenommierte Reihe der germanistischen Mittelalterforschung. Sie stellt ausgewählte editorisch und methodisch-analytisch orientierte Arbeiten von Fachkollegen aus dem In- und Ausland für die wissenschaftliche Öffentlichkeit bereit. Publikationssprachen sind Deutsch und Englisch. Die Reihe versteht sich als Forum für Publikationen zur Grundlagenforschung (Editionen, Untersuchungen zur Überlieferungs- und Textgeschichte, Standardrepertorien aus den Bereichen der material philology) wie auch für analytische Beiträge zur aktuellen Methodendiskussion anhand exemplarischer Untersuchungen.