Das um 1300 verfasste Arzneibuch Ortolfs von Baierland enthält in kompakter Form einen Überblick über alle Gebiete der mittelalterlichen Medizin, von den theoretischen Grundlagen über Diätetik, Diagnostik, Aderlass und Krankheitslehre bis hin zur Chirurgie. Auch sprachlich ist das Werk von bemerkenswerter Qualität. Die Neuedition präsentiert diese wichtige kulturhistorische Quelle auf der Basis der handschriftlichen Überlieferung, die erstmals zusammengestellt wird. Ein ausführlicher Stellenkommentar erklärt die geschilderten Phänomene sowie Ortolfs therapeutische Ansätze.
Das Lehrbuch der Medizin, das der in Baiern gebürtige und in Würzburg tätige Chirurg Ortolf wohl um 1300 verfasst hat, gehört zu den erfolgreichsten deutschsprachigen Texten des Mittelalters. Es wurde nicht nur in rund 70 Handschriften vollständig überliefert, sondern ist als Teil- oder Streuüberlieferung in fast jeder medizinischen Sammelhandschriften in irgendeiner Form präsent. Auch der Sprung in das neue Medium des Buchdrucks und von dort in die Hausväterliteratur ist Ortolf gelungen.
Für diese breite und lang dauernde Wirkung gibt es im Wesentlichen zwei Gründe, von denen zunächst die Breite des enthaltenen medizinischen Wissens zu nennen ist: Sowohl die theoretischen Grundlagen der mittelalterlichen Medizin mit einer kleinen Diätetik als auch die Harn-, Puls- und Blutdiagnostik als auch eine ausführliche Krankheitslehre mit Therapieempfehlungen und sogar Ratschläge zur Wundbehandlung sind in dem nicht allzu umfangreichen Werk enthalten. Auf diese Weise erhält der Leser trotz der relativen Kürze des Textes eine kompakte Einführung in Theorie und Praxis der mittelalterlichen Heilkunde. Der zweite Grund für Ortolfs Erfolg ist die Präzision in Sprache und Aufbau des Arzneibuchs: Das Wissen aus den verschiedenen lateinischen Vorlagen wird auf das Wesentliche kondensiert, durch ein von Ortolf selbst entwickeltes Konzept über die unterschiedlichen Themenkreise hinweg miteinander verknüpft und in einem merksatzartigen Stil didaktisch geschickt präsentiert. Kein anderer volkssprachiger medizinischer Text des Mittelalters ist von dieser bemerkenswerten Qualität.
Die vorgelegte Ausgabe beruht auf Vorarbeiten aus dem medizinhistorischen Teilprojekt des Würzburg-Eichstätter DFG-Sonderforschungsbereichs 226 ‚Wissensvermittelnde und wissensorganisierende Literatur im Mittelalter’ (1984-1992), wurde jedoch grundlegend überarbeitet und neu redigiert. Erstmals wird die bekannte handschriftliche Überlieferung zusammengestellt und die textgeschichtliche Varianz ausgewiesen. Ein ausführlicher Kommentarteil erklärt Ortolfs Krankheitslehre und seine Therapieempfehlungen vor dem Hintergrund seiner Zeit, macht die inhaltliche Vernetzung innerhalb des Werks transparent, deutet mit gebotener Vorsicht die beschriebenen Phänomene und stellt nicht zuletzt eine Verbindung zu heutigen Beobachtungen und Behandlungsformen her.
Durch diese Erklärungen ist Ortolf nicht nur innerhalb der Medizingeschichte von Interesse, sondern kann auch als bedeutende Quelle zur mittelalterlichen Heilkunde für Germanistik und Kulturwissenschaften nutzbar gemacht werden.
Mit der vorliegenden Studie hat die Vf. im Vergleich zur Erstausgabe von James Follan aus dem Jahr 1963, die auf einer einzigen niederdeutschen Hs. beruht, eine gut lesbare Edition geschaffen, die nun die Grundlage für die weitere Rezeption und Erforschung des Arzneibuches bildet.
Von Werner E. Gerabek
In Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters Band 74-2 (2018)
Erstellt am 21.11.2019
* 1959, Studium der Medizin, Germanistik und Kunstgeschichte in Würzburg, 1985 Dr.med., 1989 Dr.phil., 1990 Habilitation für Geschichte der Medizin, 1992-1994 Heisenberg-Stipendiatin in Göttingen, 1994-96 Professorin für Geschichte der Medizin in Lübeck, seit 1996 Lehrstuhl für Geschichte der Medizin am Karl-Sudhoff-Institut in Leipzig.
Forschungsschwerpunkte: Medizin des Mittelalters, Medizin im kulturellen Kontext.