Mittelalterbilder und ihr Weiterleben seit der Renaissance sind das Thema des Sammelbandes, der interdisziplinäre Forschungsbeiträge aus historisch arbeitenden Kulturwissenschaften vereint. Im Vordergrund steht die Frage nach den Konstruktionsprinzipien und Bausteinen der Mittelalterbilder, die sich als Artefakte erweisen und Einsicht in die Bedürfnisse derer geben, die die Denkschemata, Erzählmodelle und Bild- und Textstrategien verwenden: Mittelalter wird zur Projektionsfläche für Vorstellungen des Fremden und Vertrauten, des Überwundenen und Ursprünglichen, für Ängste und Wünsche.
Die Frage nach Mittelalterbildern, nach Formen und Funktionen der Auseinandersetzung mit Mittelalter, ist derzeit und seit längerem ein überaus beliebtes Thema. Verfolgt man diese Beschäftigung über die letzten Jahre hinaus zurück, haben sich die Fragestellungen lange Zeit auf Mittelalter-Rezeption im Werk einzelner Künstler und Wissenschaftler bzw. in bestimmten Zeiträumen (z. B. Romantik) konzentriert. Festgestellt wurden dabei vor allem die Auslagerung von Ängsten und die Suche nach einer Zufluchtsstätte als Erfüllungsort für Träume und Wünsche, die einer ästhetischen, konfessionell-religiösen oder politisch-ideologischen Ebene zuzuordnen sind, in der die Vergangenheit mit dynastischen, national(istisch)en oder gesellschaftsutopischen Hoffnungen verknüpft ist. Welche Denkschemata, Modelle, Text- oder Bildstrategien hinter den einzelnen Mittelalterbildern stecken, wurde bislang weit seltener untersucht. Es ist keineswegs geklärt, welche Prinzipien der Wahrnehmung, der Selektion, Kombination und Sinnzuschreibung den Bausteinen für die Mittelalterbilder zugrunde liegen. Untersucht sind Mittelalter-Rezeption und ihre Hintergründe zudem vor allem für die Moderne und die Gegenwart. Die Frage nach Wahrnehmung und Konstruktionsweisen gilt aber auch für Mittelalterbilder, die vor die sogenannte „Erfindung des Mittelalters“ um 1800 (Reinhart Koselleck) zurückreichen. Ob und inwiefern diese frühe Phase von Mittelalter-Beschäftigung grundsätzlich andere Formen aufweist als nach 1800, ist noch weitgehend unklar. Trotz der Probleme um die Annahme von Epochen bzw. Epochengrenzen allgemein und im Fall der Frühen Neuzeit speziell kann die Renaissance bei allen Kontinuitätslinien als Bruchstelle und Startpunkt einer kritischen Auseinandersetzung mit Mittelalterbildern verstanden werden, die bis in die Gegenwart fortdauert - und ein Ende ist nicht abzusehen. Die Renaissance ist daher der Fluchtpunkt, von dem die interdisziplinären Beiträge in diesem Band ausgehen. Sie erstrecken sich bis zu aktuellen Formen und Medien der Mittelalter-Beschäftigung und haben einen Schwerpunkt im 19. Jahrhundert. Im Mittelpunkt stehen literarische Quellen vom ausgehenden 15. Jahrhundert bis in die Gegenwart in lateinischer, deutscher und französischer Sprache, daneben werden Fachliteratur, Bühnenbilder und Baudenkmäler untersucht. Der Band, der die Ergebnisse eines wissenschaftlichen Symposions festhält, umfasst Vorträge aus den Disziplinen mittellateinische, französische, ältere und neuere deutsche Literaturwissenschaft, Religionswissenschaft, Kunstgeschichte und Geschichtswissenschaften.
„Die deutsch-französischen Vergleiche anhand des Bühnenbildes und der Sakralarchitektur sowie die Betrachtungen
deutsch-italienischer Konstellationen in der Reiseführerliteratur bringen auf diesem interkulturellen Themenfeld einige bemerkenswerte Fortschritte. Es besteht wohl Konsens darüber, dass hier auch die nicht-westlichen literaturen
und Kulturen künftig mehr einbezogen und die institutionellen sowie personellen Voraussetzungen dafür geschaffen werden müssen“
Von Prof. Dr. Stefan Keppler-Tasaki
In: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Kultur, 2013, 137.1, S. 179-182.
Sonja Kerth
geb 1968; 1989-1994 Studium der Germanistik und Geschichte in Würzburg; 1994-1998 Wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Würzburger DFG-Forschergruppe „Das Bild des Krieges im Wandel vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit“ (Leitung: Prof. Dr. Horst Brunner); 1996 Promotion (Dissertation „Das Bild des Krieges in den politische Ereignisdichtungen des 13. bis 16. Jahrhunderts“); seit 1998 wissenschaftliche Assistentin und wissenschaftliche Mitarbeiterin im Fachbereich 10 der Universität Bremen, Teilgebiet Germanistische Mediävistik; 2005 Habilitation (Habilitationsschrift „Gattungsinterferenzen in der späten Heldendichtung“); 2006: Vertretungsprofessur in Bremen; 2006-2012: Mitarbeit an DFG-Projekten zur Edition aventiurehafter Dietrichepik (Leitung: Prof. Dr. Elisabeth Lienert); seit 2003 Geschäftsführerin des Bremer Instituts für Mittelalter- und Frühneuzeitforschung.
Forschungsschwerpunkte: Dis/ability in vormoderner Literatur, bes. Trauma und Alter(n); Heldendichtung (Untersuchungen und Edition); Krieg und Gewalt in der vormodernen Literatur; politische Dichtung des Mittelalters und der Frühen Neuzeit.
Es ist das Anliegen dieser Buchreihe, in der Dissertationen, Habilitationsschriften, sonstige monographische Darstellungen und Sammelbände erscheinen werden, die Interdisziplinarität der modernen Mittelalterforschung noch mehr hervorzuheben und zu fördern als dies bisher der Fall ist. Angenommen werden Arbeiten aus allen Gebieten der Mediävistik, sofern der Aspekt der Interdisziplinarität darin betont wird, d.h. sofern sie die Grenzen eines einzelnen Faches zu überschreiten suchen.