Unter dem erstaunlich lang anhaltenden Einfluss romantisch-mystifizierender Sichtweisen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts wird die Aufgabe der Krypta innerhalb eines Kirchenraums bis heute meist falsch gedeutet. In diesem Buch werden anhand einer breiten Auswahl der zahlreichen im 11. und 12. Jahrhundert in Italien entstandenen Anlagen die tatsächlichen Nutzungsmöglichkeiten dieses Raumtyps beleuchtet. Dabei zeigt sich vor allem, dass die Krypta trotz unterschiedlicher Funktion stets in ein klar strukturiertes System der dem Gesamtbau innewohnenden Raumhierarchie eingebettet ist.
An den besprochenen Beispielbauten kann gezeigt werden, dass die Hauptaufgabe einer Krypta in der Aufnahme des Heiligengrabs gelegen hat. Dabei spielte es keine Rolle, welchen Typus der Heilige und seine Sepultur verkörperten, ob eine Bestattung am Ort des Martyriums, ein durch Translation geschaffenes Grab eines spätantiken Märtyrers und Bekenners oder die Beisetzung eines zeitgenössischen Klerikers, der sich durch seine Taten besonders hervorgetan hatte, so dass die Kanonisation angestrebt wurde. Oftmals sind mit Kirchenneubauten Kultbegründungen verbunden, so dass die Auffindung der Grabstätte einer als heilig angenommenen Person die Vergrößerung und Verschönerung der Kirche nicht nur zu rechtfertigen, sondern zu bedingen scheint. Aus dieser Tatsache kann nun leicht geschlossen werden, die Hallenkrypta setze ebenso wie die Ringkrypta das Heiligengrab voraus. Doch sie geht noch darüber hinaus. Durch Fenster, Sichtschächte und Hörverbindungen zeigt sie in der Oberkirche an, dass sich unter dem Hochaltar, im Verborgenen, das Heiligste der Kirche befindet.
Gleichzeitig schafft und sichert diese Anlage Authentizität. Sie suggeriert eine „traditio“ des Bestattungsorts und betont die Bedeutung der jeweiligen Stadt. Oftmals sind die verehrten Personen nicht kanonisiert, ein Verfahren, das sich erst im 11. Jahrhundert entwickelt. Noch liegt die Kultbegründung in den Händen des jeweiligen Bischofs oder Abts, die Bestattung in der Krypta ist gleichbedeutend mit einer Kanonisation und legitimiert den Kult; der Besitz einer vollständigen Körperreliquie ist damit die „Kapitalanlage“ der Kirche und sichert durch zu erwartende Stiftungen und Schenkungen an den Venerierten ihre Einkünfte auf unbestimmte Sicht.
Neben ihrer kultischen Funktion dienen Krypten der Vergrößerung der Grundfläche für den Bau der Oberkirche und der Nivellierung von unebenem Gelände. Dafür bietet sich die Halle an, da ihr Grundriss dem der Oberkirche folgt und ihr System aus kleinen Kreuzgratgewölben dem Bau Stabilität gibt. Die Fülle an unterschiedlichen Lösungen zeigt deutlich, dass diese Bauform den individuellen, ortsgebundenen Anforderungen entgegenkommt. Sie ergeben sich zum einen aus der topographischen Situation, zum anderen aus dem Anspruch des Bauherrn. Die Krypta hebt den Chor oder vergrößert die Kirche, sie rahmt durch ihre anspruchsvolle und kostbare Architektur mit Gewölben und Säulen das Heiligengrab und wertet die Kirche auf, deren Herr sich derartiges leisten kann.
„(D)ie Studie (stellt) einen wichtigen Beitrag zu den in den letzten Jahrzehnten verstärkten Bemühungen um eine funktionsgeschichtliche Betrachtung von Sakralräumen dar. Sie bietet erstmals eine systematische Zusammenstellung und vergleichende Analyse verschiedener Quellen und Indizien für eine Nutzung der italienischen Krypten des I 1. und 12. Jabrhunderts. Im Ergebnis wird der Blick nicht nur auf Krypten als Teil eines mehrräumigen Sanktuariums und prädestinierter Ort für Heiligengräber gelenkt, sondern auch auf einen Wandel der Nutzungskonzepte und Bedeutungsebenen.“
Von Markus Thome
In: Rottenburger Jahrbuch für Kirchengeschichte, 32/2013, S. 425-426.
Almuth Klein
Studium der Kunstgeschichte, Christlichen Archäologie & Byzantinischen Kunstgeschichte sowie Geschichte in Mainz, Pisa und Basel. Derzeit am Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg; Erstellung eines Bestandkatalogs der Möbel von 1650-1800.
Diese Schriftenreihe widmet sich speziell den Forschungen zur Christlichen Archäologie und Kunstgeschichte in spätantiker und frühchristlicher Zeit. Sie umfasst die gesamte Epoche der Spätantike bis zum frühen Mittelalter, im Bereich des byzantinischen Reiches auch darüber hinaus.
Die Reihe ist überkonfessionell und ohne Bindung an bestehende Institutionen, arbeitet jedoch mit der „Arbeitsgemeinschaft Christliche Archäologie zur Erforschung spätantiker, frühmittelalterlicher und byzantinischer Kultur“ zusammen. Sie konzentriert sich vor allem auf die Kunstdenkmäler und versteht sich daher nicht als Konkurrenz, sondern als Ergänzung zu schon bestehenden Reihen, die in der Regel nicht nur die materielle Hinterlassenschaft der alten Kirche, sondern stets auch literarische, theologische und philologische Themen behandeln.
Einer klareren Zuordnung und einer größeren Bandbreite der verschiedenen Disziplinen wegen wurden zwei Unterreihen eingerichtet:
Die Reihe A „Grundlagen und Monumente“ setzt sich schwerpunktmäßig mit einzelnen Denkmälern bzw. Denkmalgruppen im Sinne einer korpusartigen Erfassung der Denkmäler auseinander.
In der Reihe B „Studien und Perspektiven“ werden einerseits Vorträge der Tagungen der „Arbeitsgemeinschaft Christliche Archäologie“ publiziert, andererseits bietet sie ein Forum für Untersuchungen zu den verschiedensten Fragen aus dem Gebiet der spätantiken/byzantinischen Archäologie und Kunstgeschichte.