„Für den unermesslichen Fleiss und den wissenschaftlichen Einfallsreichtum, den die Entschlüsselung dieser einzigartigen und politisch anhaltend brisanten Texte bis heute erfordert, sind keine Nobelpreise vorgesehen. Das Beherrschen des präzisen linguistischen Fingerspiels und das ausgebildet-feine Gehör für die poetischen Möglichkeiten längst verschollener Sprachen sind hier stets der wichtigste Lohn und Lorbeer. Dass sie genügten, bezeugen die Schriften eines F. Carl Andreas und Paul Thieme, eines Karl Hoffmann und einer Mary Boyce - und auch die des «Jüngsten» in diesem Kreis: Helmut Humbach, 88, dessen Buch über Zarathustra und seine Antagonisten kürzlich erschienen ist.
Der erste Teil des Buches ist eine Führung durch Humbachs Sprachlabor, das prominenteste der modernen Gatha-Forschung. Humbach verweist darin zuvorderst auf die unterschiedlichen Schrift- und Sprachüberlieferungen, deren intime Kenntnis ihm immer wieder neue Einblicke ermöglichte. Nach der Öffnung seiner Werkzeugschränke führt Humbach sodann zu seiner Werkbank und zeigt seine neuesten Stücke. Eines ist die Übersetzung des Wortes «Graehma». - Zarathustra ging mit - andersgläubigen – Kontrahenten stets scharf ins Gericht. Er nannte sie «Lügner», einer galt ihm als «Sodomit», und ihr kultisches Getränk verspottete er als «Pisse».
«Opferfresser» oder «Grasbande»
Problematisch blieb lange die Bezeichnung «Graehma». F. C. Andreas und Lommel übersetzten sie mit «Opferfresser». Humbach zeigt nun aber, dass die altindischen und griechischen Verwandten des Wortes auf die avestische Bedeutung «Gras, Heu» verweisen. Und diese hat nicht nur weitere grammatische Erwägungen für sich. Sie ergibt sogleich auch Sinn, wenn man bedenkt, wofür das Wort «Gras» ja naheliegenderweise auch heute wieder gebraucht wird: für Haschisch. - Humbach ersetzt daher «Opferfresser» durch «Grasbande» und gibt eine korrespondierende Gathastelle wieder mit: «. . . der Lügenpriester zieht dem Wahrsein das
vor». Im zweiten Teil des Bandes sind Humbachs neueste Forschungsergebnisse eingearbeitet in eine neue Gesamtübersetzung der Gathas, seine dritte nach jenen von 1959 und 1991. Entstanden mit der tatkräftigen Unterstützung seines Kollegen Klaus Faiss, wird sie aller Voraussicht nach für Jahre Standard bleiben; in Fachkreisen ohnehin - und man wünschte im öffentlichen Interesse: nicht nur dort.“
Harald Strohm
In: Neue Zürcher Zeitung, 22. Dezember 2010
http://www.nzz.ch/nachrichten/kultur/literatur/wider_die_kiffenden_luegenpriester_1.8814875.html#
(4. Januar 2011)