Das Format der Literatur, ihre materielle und mediale Erscheinung im handgeschriebenen Codex oder im gedruckten Buch, sind in den letzten Jahrzehnten zunehmend in den Fokus der mediävistischen Forschung gerückt. Der material turn in den Literaturwissenschaften bedeutete die Überwindung der Dichotomie von materieller Form und semiotischem Gehalt von Schrift und Buchkörper. Neuimpulse dieser Einsicht betreffen alle Bereiche des literarischen Prozesses: auf der Produktionsebene die Untersuchung kultureller Praktiken im Schnittfeld von Sprache, Technologie und Körper, auf der Ebene des Textträgers den Beginn der planmäßigen Erschließung und Dokumentation in groß angelegten Digitalisierungsprojekten, auf der Rezeptionsebene den Nachvollzug von visuellen Perzeptionsmodi und den damit verbundenen Sinnbildungsmustern.
Doch kann die Erkenntnis, dass Literatur eine gegenständliche Form hat, einen Schritt weiter führen, erfasst man das materiale Buch nicht als autonomes Objekt, sondern erlaubt eine prozesshafte Perspektive auf die genannten Bereiche: Von der Schreibszene und der Konzeption des materialen Textes über seinen Träger bis hin zur intendierten und zur tatsächlichen Rezeption öffnet sich der Blick auf dynamische Verläufe, die hier als literarische Reproduktionsprozesse bezeichnet seien. Aus historischer Warte liegt ein besonderer Reiz dieser Perspektive darin, dass das materiale Buch als Artefakt und physisch erhaltener Zeuge eines solchen Prozesses die ungleich vergänglicheren, situativ gebundenen Konstellationen der Produktion und Rezeption überdauert, welche erst die historische Analyse bedingt erschließen und mit dem materialen Objekt verbinden kann. Zu untersuchen ist damit nicht nur das Verhältnis von Materialität und Textualität, sondern zugleich die Frage nach der Materialisierung und nach der Textualisierung kultureller und historischer Phänomene. Dies verlangt einen historischen Zugriff, der Produktions- und Rezeptionskontexte gleichermaßen in größeren Zusammenhängen und in Mikroperspektive, im Sinne einer Poetik der Kultur, zu untersuchen bereit ist. Die Beiträge dieses Bandes versuchen diesen Schritt zu gehen, indem sie Handschriften und Frühdrucke zugleich als materiale Artefakte und als Bestandteile kulturhistorischer und diskursiver, nicht selten situativer, räumlich und zeitlich begrenzter, eng institutionen- oder personengebundener Prozesse untersuchen. Unter den medialen Bedingungen der Vormoderne, die Produzenten, Medium und Rezipienten räumlich und diskursiv nahe zusammentreten lassen und die einen Codex zum aufwendig gestalteten und kostbaren Besitz machen, sind literarische Reproduktionsprozesse dabei häufig Teil individueller, kollektiver und partizipativer Identitätsbildung oder -repräsentation der beteiligten Personen und Institutionen. Sie tragen in diesem Sinne zur Diskussion um historische Formen der Identitätskonstitution bei.
Nicole Eichenberger (*1984) studierte in Freiburg/Schweiz und Heidelberg Germanistik und Romanistik und war als Assistentin am Lehrstuhl für Germanistische Mediävistik an der Universität Freiburg/Schweiz (2005–2016) sowie als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Handschriftenzentrum der Universitätsbibliothek Leipzig (2011–2013) tätig. Promotion in Freiburg/Schweiz zum Thema geistliche Verserzählungen (2015). Bibliotheksreferendariat an der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz (2016–2018); seit 2020 Fachreferentin für Theologie, Religionswissenschaft und Klassische Philologie an der Staatsbibliothek.
Eckart Conrad Lutz (*1951) studierte in Marburg, Freiburg i. Br., Toulouse, Zürich und Konstanz Germanistik und Geschichte. Promotion 1982 und Habilitation 1988 in Freiburg i.Br., Heisenberg-Stipendium, Nominierung für Fiebiger-Professur und Berufung auf die ord. Professur für Germanistische Mediävistik an der Universität Freiburg/Schweiz 1989, seit 2018 emeritiert. Vorstand der Wolfram von Eschenbach-Gesellschaft 1998‒2012. Projektleiter im NFS Mediality Zürich 2005‒2013. Gastprofessuren in Zürich, Genf, Hamburg (Mercator-Programm der DFG) und Paris (EHESS). Korr. Mitglied der Göttinger Akademie der Wissenschaften. Forschungsinteressen: Medialität und Identität ‒ Text, Bild und Diagramm ‒ Prozesse des Schreibens, Lesens und Erkennens ‒ Bildung und Gespräch ‒ Literatur und Wandmalerei.
Christine Putzo (*1977) studierte in Hamburg und London Germanistik und Anglistik. Promotion 2010 in Hamburg, anschließend wissenschaftliche Mitarbeiterin am NFS Mediality, Zürich, und Doktorassistentin in Freiburg/Schweiz. Seit 2013 Lehr- und Forschungsrätin für Germanistische Mediävistik an der Universität Lausanne und Lehrbeauftragte an der Universität Neuchâtel. Forschungsinteressen: Materialität und Medialität, Editionswissenschaft, Historische Narratologie