‚(V)erdichtete Leben‘ meint den Status von (auto)biographischer Literatur zwischen ‚wirklichem’ Leben und seiner literarischen Funktionalisierung. Unter diesem Aspekt widmet sich der aktuelle Tagungsband der Oswald von Wolkenstein-Gesellschaft der Frage nach der Relevanz von (Auto)biographie als Gattung und Textbestandteil im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit. Die Untersuchungen beginnen bei den höfischen Romanen Hartmanns von Aue und der Frage nach den Gönnern der Artusromane, konzentrieren sich auf die Lieddichtung (u.a. Walther von der Vogelweide, Neidhart bzw. Neithart Fuchs und natürlich Oswald von Wolkenstein), beziehen die geistliche Literatur, und hier vor allem die sogenannte ‚deutsche Mystik‘ (Mechthild von Magdeburg, Heinrich Seuse, und noch Dorothea Beier), auch anhand der Hagiographie ein, blicken in die Romania (Christine de Pizan) und analysieren mittelalterliche und frühneuzeitliche Lebensbeschreibungen (Ulrich von Liechtenstein, Hans Schiltberger, Georg von Ehingen, Götz von Berlichingen, Thomas Platter und Kaiser Maximilian I. ). Eine Fülle an generellen Überlegungen zum Thema gilt u.a. der Sangspruchdichtung, der höfischen Selbstinszenierung, der geistlichen Exempelhaftigkeit des eigenen Lebens, der Funktion ritterlicher Kämpfe in der Literatur und den literarischen Inszenierungen der Lebenssituation junger Ritter.
„(V)erdichtete Leben“ stellt die Frage nach dem Zusammenhang von autobiografischen und biografischen Elementen und literarischen Strategien. Dabei geht es weniger um die alte Frage, ob es ein richtiges Leben im erdichteten geben kann, also ob bestimmte autobiografische Angaben „wirklich wahr“ sind. Es geht vielmehr darum, wie bestimmte Lebenssplitter und biografische Informationen im Rahmen von literarischen Texten eingesetzt werden, um damit bestimmte Aussagen tätigen oder unterstützen zu können, bestimmte literarische Funktionen erfüllen zu können, bestimmte Exempel bieten zu können oder das Publikum von bestimmten Aussagen zu überzeugen. Welche Methoden setzen Verfasser von Literatur ein, um Lebenselemente in Dichtung umzusetzen. Welche Ziele verfolgen sie damit? Welche literarischen Effekte werden damit erreicht?
Die Tagung der Oswald von Wolkenstein-Gesellschaft, deren Beiträge diesem Band zugrunde liegen, spannte dabei den thematischen Bogen von Minnesang und Artusroman bis zu den Reise- und Lebens-Beschreibungen des Spätmittelalters, von dem Versuch der Beschreibung des Rittertums bis zur Mystik und zu Legenden. So wird ein sowohl methodisch als auch gattungsbezogen breiter Überblick anhand zahlreicher Einzelfallstudien und einiger übergreifender Ansätze ermöglicht. Die behandelten Autoren reichen von Walter von der Vogelweide bis Oswald, von Mechthild von Magdeburg bis Heinrich Seuse, von Kaiser Maximilian I bis Götz von Berlichingen.
Der Band versucht damit, den methodischen Ansatz, der sich aus dem Titel „(v)erdichtete Leben“ ergibt, auf die deutsche Literatur des Mittelalters anzuwenden und so von dieser Epoche aus einen neuen Blick auf das Thema (Auto)biographie und Literatur zu werfen.
Ingrid Bennewitz
Studium der Germanistik, Musikwissenschaft und Philosophie sowie Musik an der Universität Salzburg und der Hochschule Mozarteum und an der Universität Münster/Westf.; 1985 Promotion; 1993 Habilitation; Sommersemester 1994 Vertretung des Lehrstuhls für Deutsche Literatur des Mittelalters an der Universität Chemnitz-Zwickau; 1995 Ruf auf den Lehrstuhl für Deutsche Philologie des Mittelalters in Bamberg. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen u.a. die Deutsche Literatur des 12. bis 16. Jahrhunderts, Überlieferung und Edition, ‚gender studies’ und Mittelalter-Rezeption.
Freimut Löser
Freimut Löser hat Germanistik und Anglistik studiert und neben diversen Tätigkeiten in der Germanistik auch in der amerikanischen Literaturwissenschaft unterrichtet. Nach Lehrtätigkeiten u.a. in Austin/Texas und SUNY/Albany und mehreren Lehrstuhlvertretungen wurde er 2003 auf den Lehrstuhl für Deutsche Sprache und Literatur der Universität Augsburg berufen, den er bis 2021 innehatte. Er ist Präsident der internationalen Meister-Eckhart-Gesellschaft, war lange Zeit zweiter Vorsitzender der Oswald von Wolkenstein-Gesellschaft und leitet seit 2020 die „Arbeitsstelle der Universität Augsburg für Bibelübersetzungen und religiöses Schrifttum des Mittelalters“ mit einem Akademieprojekt zur deutschen Bibel vor Luther. Forschungsschwerpunkte sind die geistliche Literatur (u.a. die sog. Deutsche Mystik und die deutsche Bibel), Sangspruch und Minnesang, Edition und Editionstheorie, Überlieferungsgeschichte und Handschriftenkunde.
Martin Fischer
Geboren 1980; Studium der Germanistik und Geschichte an der Universität Bamberg; 2008 Magister Artium und Staatsexamen; 2009-2016 wissenschaftliche Mitarbeiter am Lehrstuhl für Deutsche Philologie des Mittelalters der Universität Bamberg; seit Februar 2016 Akademischer Rat auf Zeit am Lehrstuhl für Deutsche Philologie des Mittelalters der Universität Bamberg