Giovanni Boccaccios ›De casibus virorum illustrium‹ – eine frühhumanistische Sammlung von Biographien berühmter Männer und Frauen der Weltgeschichte in lateinischer Sprache – gehörte im 15. und 16. Jahrhundert europaweit zu den meistgelesenen Werken des großen italienischen Autors. Auf Basis einer eingehenden Neubeschäftigung mit dem heute nahezu vergessenen Text bietet die vorliegende Monographie erstmalig eine umfassende Darstellung der lateinischen und volkssprachlichen Rezeptionsgeschichte in Deutschland. Dabei lassen sich beispielhaft auch grundlegendere Funktionsweisen der deutschen Humanismus-Rezeption sichtbar machen.
Giovanni Boccaccios ›De casibus virorum illustrium‹ – eine frühhumanistische Sammlung von Biographien berühmter Männer und Frauen der Weltgeschichte in lateinischer Sprache – gehörte im 15. und 16. Jahrhundert europaweit zu den meistgelesenen Werken des berühmten italienischen Autors. Auf Basis einer eingehenden Neubeschäftigung mit dem heute nahezu vergessenen Text bietet die vorliegende Monographie erstmalig eine umfassende Darstellung der lateinischen und volkssprachlichen Rezeptionsgeschichte in Deutschland.
Lange Zeit galt ›De casibus‹ als ästhetisch anspruchsloses und rein ›erbauliches‹ Werk, das vom Genius des ›Dekameron‹-Schöpfers nichts mehr erkennen ließe. Ein genauerer Blick auf den Text zeigt demgegenüber jedoch, dass es sich bei ›De casibus‹ um ein ästhetisch, epistemologisch und funktional vielschichtiges Werk des frühen italienischen Renaissance-Humanismus handelt. Insbesondere an der Rahmenhandlung des Werkes, in der die Unglücklichen der Weltgeschichte am Schreibtisch des Autors erscheinen, sowie an der kaum zu überschätzenden Bedeutung des Fortuna-Diskurses lassen sich Pluralisierungsdynamiken herausarbeiten, die als konstitutives Merkmal der Renaissance erscheinen.
Die leitende These der Untersuchung ist, dass erst durch die vorgängige interpretatorische Beschäftigung mit dem Prätext die rezeptionsgeschichtliche Betrachtung ihr eigentliches Fundament und ihre spezifische Fragerichtung gewinnt. Daher galt es, die schillernde Vielfalt an Deutungen und Funktionalisierungen, die der plurale, ambige und heterogene Text in seiner Rezeptionsgeschichte erfahren hat, methodisch sorgfältig nachzuzeichnen. Im Fokus steht dabei zunächst die lateinischsprachige Rezeption: Auf Grundlage einer Erhebung der handschriftlichen Überlieferung im deutschen Sprachraum lassen sich Rückschlüsse auf die Überlieferungssituation in Deutschland, auf bestimmte Rezipientengruppen und Überlieferungsverbünde ziehen. Die beachtliche handschriftliche Verbreitung von ‹De casibus‹ hat auch den raschen Weg in den Druck zur Folge: Während die Edition des Peutinger-Schülers Menrad Molther aus unbekannten Gründen ungedruckt blieb, war dem Augsburger Humanisten Hieronymus Ziegler 1544 mit einer reich mit Kommentaren und Erklärungen versehenen Ausgabe mehr Erfolg beschieden. Ein Jahr später brachte Ziegler auch die erste deutsche Übersetzung auf den Markt, in der durch massive interpolierende Eingriffe das Werk in eine neue, ›popularisierende‹ Gebrauchsform gebracht wurde. In dieser neuen, auf breitere Rezipientenkreise zielenden Form verließ das Werk die humanistische Sphäre und fand unter anderem Eingang in das Werk des Nürnberger Dichters Hans Sachs.
Die Studie behebt ein wichtiges Desiderat der Rezeptionsforschung zum Autor Boccaccio und kann vor allem durch den Einbezug des Prätextes nicht nur für die Germanistik, sondern auch für die Italianistik, Mittellatinistik sowie die Geschichtswissenschaft neue Impulse geben. Die Untersuchung der Überlieferung und Rezeption eines frühhumanistischen Werkes im deutschsprachigen Raum soll es jedoch auch erlauben, grundlegendere Prozesse und Transformationen sichtbar zu machen, die sich im Rahmen verändertet soziokultureller sowie bildungs-, diskurs- und mediengeschichtlicher Kontexte in einem Zeitraum von knapp 200 Jahren vollzogen haben. In diesem Sinne möchte die Untersuchung auch in allgemeinerer Weise ein Beispiel für die grundsätzlichen Modalitäten und Funktionsweisen der deutschen Humanismus-Rezeption geben.
„[…] Insgesamt betrachtet, liegt mit P r e c h t l s Studie eine detaillierte Arbeit vor, die De casibus aus dem überlangen Schatten des Dekameron heraustreten lässt und eine Lücke zur Boccaccio-Rezeption in Deutschland schließt. Zugleich kann seine Untersuchung als Anregung für Forschungen dienen, die sich auch mit dem Nachleben der lateinischen Werke des Italieners beschäftigen; dabei fehlen insbesondere entsprechende Arbeiten zu den Genealogie deorum gentilium und De claris mulierbus im deutschen Frühhumanismus. […] Auch in dieser Hinsicht kann P r e c h t l s wissenschaftliche Leistung als mustergültig gelten und stellt einen substantiellen Beitrag zur Erforschung des Zusammenspiels dar, das unsere europäischen Sprachen und Literaturen auszeichnet.“
Von Klaus Fetkenheuer
In: Wiener Studien, Bd. 135 (2022), S. 97-100
Die „Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters“ (MTU) sind eine international hochrenommierte Reihe der germanistischen Mittelalterforschung. Sie stellt ausgewählte editorisch und methodisch-analytisch orientierte Arbeiten von Fachkollegen aus dem In- und Ausland für die wissenschaftliche Öffentlichkeit bereit. Publikationssprachen sind Deutsch und Englisch. Die Reihe versteht sich als Forum für Publikationen zur Grundlagenforschung (Editionen, Untersuchungen zur Überlieferungs- und Textgeschichte, Standardrepertorien aus den Bereichen der material philology) wie auch für analytische Beiträge zur aktuellen Methodendiskussion anhand exemplarischer Untersuchungen.