Die hier erstmals eingehend erschlossene kleinformatige Handschrift, wohl im zweiten Viertel des 14. Jahrhunderts im ostmitteldeutschen Raum entstanden, ist im Aufbau ohne bekannte Parallele: Durchgehend mit kolorierten Federzeichnungen ausgestattet setzt sich die Handschrift aus einer Folge von Bildern mit deutschsprachigen Teilparaphrasen zu Evangelienperikopen, einem Festkalender mit Bildkürzeln und einem Passionsbilderzyklus zusammen. Mit ihrer Bezugnahme auf die dominikanische Liturgie ebenso wie auf Elemente des Brauchtums und mit ihrer durch Nachträge im Kalenderteil belegten Nutzungsgeschichte bis ins frühe 16. Jahrhundert wird sie in der vorliegenden Publikation als aufschlussreiches Dokument für die Frömmigkeitsgeschichte des Spätmittelalters interpretiert.
Im 17. Jahrhundert fand eine kleinformatige, durchgehend mit kolorierten Federzeichnungen ausgestattete Pergamenthandschrift mit deutschsprachigem Text Eingang in die Büchersammlung der Familie Bouhier in Dijon. Die heute noch 48 Blätter umfassende Handschrift, wohl im zweiten Viertel des 14. Jahrhunderts im ostmitteldeutschen Raum entstanden, ist in ihrer Anlage ohne bekannte Parallele: Ein erster Teil (nicht vollständig erhalten) bietet auf jeder Seite ein Bildfeld zu einer Evangelienperikope; darüber ist in deutscher Sprache jeweils der Leseanlass angegeben, gefolgt von einer Teilparaphase des Perikopeninhalts, die nicht selten mitten im Satz abbricht. An den Perikopenteil schließt sich ein Festkalender mit Bildkürzeln an. Beschlossen wird die Handschrift von einem textlosen Passionsbilderzyklus. Die Provenienz dieser einzigartigen Handschrift lässt sich nicht über ihre Katalogisierung in Dijon zurückverfolgen; Indizien über Herkunft und Gebrauchskontexte können nur aus dem Objekt selbst gewonnen werden.
In der vorliegenden Publikation wird die Handschrift erstmals ediert und im Detail erschlossen, in ihrer Funktion bestimmt (,Andachtsbüchlein‘) und frömmigkeitsgeschichtlich ausgewertet. Sie wird u.a. im Hinblick auf kodikologische und paläographische Fragen, die liturgischen Bezugssysteme, die Textstruktur und die Ikonographie eingehend analysiert. Die Befunde sind jeweils kontextualisiert und in größere Zusammenhänge eingeordnet, etwa die zunehmende Verbreitung deutschsprachiger Perikopen im Spätmittelalter. Im Editionsteil erlaubt die vollständige farbige Reproduktion der Handschrift mit Erläuterungen direkt daneben einen unmittelbaren Nachvollzug der Einzelbeobachtungen.
Aus germanistischer Perspektive bietet allein schon die Erschließung des Textbestandes der Handschrift neue Erkenntnisse, weil sie das bisherige Bild von dem Umgang mit Perikopen in deutscher Sprache erweitert. Die abbrechenden Paraphrasen lassen außerdem Rückschlüsse auf Rezeptionstechniken und die bildungsgeschichtlichen Voraussetzungen dafür zu. In kunsthistorischer Hinsicht bildet die Analyse der Handschrift einen wichtigen Baustein in der noch zu schreibenden Geschichte von Perikopen-Bilderzyklen. Hinzu kommen ikonographisch seltene Motive, auch im Kalenderteil, dessen Typus für den deutschen Sprachraum in Buchform sonst nicht belegt ist. Vor allem sind aus der Handschrift Einblicke in Frömmigkeitspraktiken zu gewinnen: Schon in der ursprünglichen Schicht zeigt sie sowohl Bezüge zu liturgischen Ordnungen, insbesondere der dominikanischen Liturgie, als auch zum Brauchtum. Bildliche und schriftliche Nachträge im Kalenderteil aus der Zeit bis zum frühen 16. Jahrhundert dokumentieren eine anhaltende intensive Nutzung u.a. im kartäusischen Kontext und im Kontext der Verehrung von Heiligen als Nothelfern. Insofern verweist die Handschrift auf eine Durchdringung verschiedener religiöser Sphären, wie sie für die Frömmigkeitsgeschichte des Spätmittelalters weiter zu diskutieren sein wird.
Henrike Manuwald, geb. 1980, studierte Deutsche Philologie, Englische Philologie und Kunstgeschichte an der Universität zu Köln. Sie wurde dort 2006 mit der Arbeit Medialer Dialog. Die ‚Große Bilderhandschrift‘ des Willehalm Wolframs von Eschenbach und ihre Kontexte promoviert. An der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg im Breisgau, wo sie von 2008 bis 2016 als Juniorprofessorin für Germanistische Mediävistik tätig war, habilitierte sie sich 2014 mit der Studie Jesus und das Landrecht. Zur Realitätsreferenz bibelepischen Erzählens in Hoch- und Spätmittelalter. Seit 2016 ist sie Professorin für Germanistische Mediävistik an der Georg-August-Universität Göttingen. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Intermedialität, ,Literatur und Recht‘ und Historische Semantik; außerdem verfolgt sie kulturwissenschaftliche Fragestellungen, insbesondere im Bereich der mittelalterlichen Frömmigkeitskultur.
Es ist das Anliegen dieser Buchreihe, in der Dissertationen, Habilitationsschriften, sonstige monographische Darstellungen und Sammelbände erscheinen werden, die Interdisziplinarität der modernen Mittelalterforschung noch mehr hervorzuheben und zu fördern als dies bisher der Fall ist. Angenommen werden Arbeiten aus allen Gebieten der Mediävistik, sofern der Aspekt der Interdisziplinarität darin betont wird, d.h. sofern sie die Grenzen eines einzelnen Faches zu überschreiten suchen.