›Wahnsinn‹ ist ein schillernder Begriff mit einem breiten Bedeutungsspektrum, das von der Benennung psychischer Krankheiten über nicht nachvollziehbares, unverständliches oder gar gefährliches Verhalten bis hin zu positiven Attributen (›wahnsinnig gut‹) reicht. Der Band lotet die Vorgeschichte des ›Wahnsinns‹ vor dem ›Zeitalter der Vernunft‹ (Foucault) aus, indem er in Fallstudien untersucht, wie in Texten aus der christlichen Antike und dem Mittelalter ein normabweichendes, auf Wahrnehmungsstörung oder geistige Verwirrung zurückzuführendes Verhalten inszeniert oder bestimmten Personen unterstellt wird. Es geht also in erster Linie um die Frage, wie ›Wahnsinn‹ funktionalisiert wird und welche Rolle die jeweiligen soziokulturellen Hintergründe sowie die philosophie-, theologie- und medizinhistorischen Kontexte für solch eine Funktionalisierung spielen.
Der Band setzt sich mit der antiken und mittelalterlichen ›Vorgeschichte‹ eines schillernden, in unterschiedlichsten Kontexten verwendeten Begriffs auseinander: ›Wahnsinn‹ und mehr noch das beinahe ubiquitär gebrauchte zugehörige Adjektiv ›wahnsinnig‹ weisen ein breites Bedeutungsspektrum auf, das von der Benennung psychischer Krankheiten über nicht nachvollziehbares, unverständliches oder gar gefährliches Verhalten bis hin zu positiven Attribuierungen wie ›wahnsinnig gut‹ reicht. Für die geistes- und kulturwissenschaftliche Erforschung des ›Wahnsinns‹ ist die bahnbrechende Studie Folie et déraison. Histoire de la folie à l’âge classique von Michel Foucault (1961) ein zentraler Ansatzpunkt. Entscheidend ist vor allem Foucaults klare Abgrenzung zwischen dem ›Normalen‹ und dem Andersartigen. Wie aber konkret die Zuschreibung von Wahnsinn erfolgt und welche Rolle Literatur und Wissenschaft, aber auch verschiedene Künste hierbei spielen, beachtet Foucault kaum; zudem ist der Wahnsinn in der Breite seiner Erscheinungsformen nicht nur in ein dichotomisches Verhältnis zur Vernunft zu setzen, und schließlich prägen verschiedenste Wahnsinns-Diskurse nicht erst seit der Aufklärung die ›abendländische‹ Kultur. Das zeigen die hier vorgelegten Beiträge in einem dezidiert interdisziplinär breiten Zugriff, dem der platonische Begriff der mania zugrundeliegt. Dieser hat den Vorteil, dass er nicht nur negativ konnotiert ist, sondern neben krankhaften Störungen des Geistes auch andere Formen des Außer-sich-Seins (ekstasis) wie etwa göttliche Inspiration mit einschließt. Die Beiträge des Bandes untersuchen in exemplarischen Fallstudien, wie in Texten aus der christlichen Antike und dem Mittelalter ein normabweichendes, auf Wahrnehmungsstörung oder geistige Verwirrung zurückzuführendes Verhalten inszeniert oder bestimmten Personen unterstellt wird. Es geht also in erster Linie um die Frage, wie ›Wahnsinn‹ funktionalisiert wird und welche Rolle die jeweiligen soziokulturellen Hintergründe sowie die philosophie-, theologie- und medizinhistorischen Kontexte für solch eine Funktionalisierung spielen. Die Bandbreite reicht dabei von Ansätzen, die medizinische Implikationen völlig ausblenden, über solche, die medizinisch-diätetische Wissensbestände mit göttlichen bzw. dämonologischen Erklärungsversuchen vermischen, bis hin zu Ansätzen, die auf eine dämonologische Erklärung für Wahnsinn oder ekstasis völlig verzichten und allein äußere Reize und körperliche Faktoren für die Diagnose und Behandlung verschiedener Formen des Wahnsinns in Betracht ziehen.
Cora Dietl (geb. 1967) ist seit 2007 Professorin für deutsche Literaturgeschichte (Mittelalter/Frühe Neuzeit) an der Universität Gießen. Promotion Tübingen 1995 mit einer Arbeit zum späthöfischen Roman, Habilitation Tübingen 2004 zum frühhumanistischen Drama. Forschungsschwerpunkte: höfische Epik, deutsche Theatergeschichte der Frühen Neuzeit, Regionalliteratur des Mittelalters.
Nadine Metzger (geb. 1981) ist Alt- und Medizinhistorikerin, seit 2009 wiss. Mitarbeiterin am Institut für Geschichte und Ethik der Medizin an der FAU Erlangen-Nürnberg. Forschungsschwerpunkte: Antike Medizin und Psychopathologie, dämonologische vs. medizinische Krankheitserklärung. Medizinhistorische Habilitation 2020 zur Medizintheorie der 1910er und 1920er Jahre.
Christoph Schanze (geb. 1982), Studium Deutsch und Musik in Tübingen und Trossingen, seit 2010 wiss. Mitarbeiter in Gießen, Promotion 2015 mit einer Arbeit zum Welschen Gast Thomasins von Zerklære. Forschungsschwerpunkte: didaktische Literatur des hohen und späten Mittelalters / ‚Wissensliteratur‘, Minnelyrik, Sangspruchdichtung, Lied um 1500, höfischer Roman (Ästhetik und Poetologie), Dinge und Literatur
Es ist das Anliegen dieser Buchreihe, in der Dissertationen, Habilitationsschriften, sonstige monographische Darstellungen und Sammelbände erscheinen werden, die Interdisziplinarität der modernen Mittelalterforschung noch mehr hervorzuheben und zu fördern als dies bisher der Fall ist. Angenommen werden Arbeiten aus allen Gebieten der Mediävistik, sofern der Aspekt der Interdisziplinarität darin betont wird, d.h. sofern sie die Grenzen eines einzelnen Faches zu überschreiten suchen.