Die Studie untersucht erstmals ausführlich eine repräsentative Auswahl an tragedi und comedi des Hans Sachs mit weiblichen Protagonistinnen. Anhand einer sorgfältigen Rekonstruktion des intertextuellen Bezugsrahmens der Dramen, unter Berücksichtigung sowohl der enorm vielfältigen literarischen Quellen und Prätexte als auch Sachs’ eigener motiv- und stoffverwandter Dichtungen in Form von Meisterliedern und Spruchgedichten, werden das dramaturgische Instrumentarium des Autors präziser bestimmt sowie insbesondere auch das Verhältnis von Spiel und Lehre differenzierter ausgelotet. Gerade das „ernste“ Drama erweist sich als privilegierter Ort für die literarische Inszenierung kreativer weiblicher Zuschreibungen und Handlungspotenziale, die unterschwellig an vielen Stellen Widersprüche zum normativen Geltungsanspruch der angehängten moralischen Lehre provozieren. Umgekehrt trägt die Lehre in anderen Fällen aber auch den literarischen Diskurs mit, indem sie beispielsweise weibliche Laster an männliches Fehlverhalten zurückbindet. Insgesamt wird der Versuch des Autors erkennbar, innerhalb des lutherisch-patriarchalischen Ehemodells und des davon getragenen sozialpolitischen Ordnungsgefüges neue, stärker wechselseitig entworfene Umgangsweisen zwischen den Geschlechtern zu verhandeln.
Der Nürnberger Schuhmacher Hans Sachs (1494-1576) verfasste neben Meisterliedern, gereimten Erzählungen (sog. „Spruchgedichten“), Fastnachtspielen und einigen Prosadialogen insgesamt 167 von ihm selbst so bezeichnete tragedi und comedi. Zielpublikum war die untere stadtbürgerliche Mittelschicht der Handwerker, die sozial und intellektuell vom Kulturleben der humanistischen Bildungselite ihrer Heimatstadt ausgeschlossen war. Seit ca. 1550 erlebte die neue Theaterform zudem eine frühe Institutionalisierung; unter Sachs’ Leitung bildete sich ein „festes Ensemble“ und der Spielbetrieb wurde an eigens ausgewiesene Orte wie die säkularisierte Marthakirche verlagert.
Barbara Sasse analysiert erstmals ausführlich ein repräsentatives Korpus von Dramen, in denen weibliche Figuren eine Hauptrolle spielen. Den Ausgangspunkt dafür bildet eine genaue Rekonstruktion der jeweiligen intertextuellen Bezugsrahmen. Neben den literarischen Prätexten, die Sachs durchweg über (zeitgenössische) deutsche Übersetzungen rezipierte, werden auch seine eigenen motiv- und stoffverwandten Meisterlieder und Spruchgedichte berücksichtigt. Die so gewonnenen Einsichten ermöglichen insgesamt, das dramaturgische Instrumentarium des Autors präziser zu beschreiben sowie insbesondere das Verhältnis von Spiel und angehängter Lehre differenzierter auszuloten. Nicht zuletzt wird so der bedeutende Stellenwert gewürdigt, den Sachs gerade auch mit seinen dramatischen Adaptionen für den europäischen Literaturtransfer in den deutschen Sprachraum seiner Zeit und darüber hinaus beanspruchen darf.
Die zahlreichen weiblichen Dramenfiguren entlehnte der literarisch ungeheuer interessierte Sachs einer breiten abendländischer Literaturtradition: von der klassischen Antike über die geistliche und weltliche Literatur des europäischen Mittelalters bis zu den italienischen Humanisten. Innerhalb des Spiels fällt diesen Figuren stets eine Schlüsselfunktion für die mitverhandelten aktuellen Diskurse zu, vorrangig die luthersche Glaubenslehre und das von ihr propagierte Ehe- und Familienmodell, aber auch den politischen Ordnungsdiskurs. Das „ernste“ Drama erweist sich dabei als kreativer virtueller Raum für die Inszenierung neuer weiblicher Zuschreibungen und Handlungspotenziale, die zwangsläufig unterschwellige Widersprüche zu den in der Lehre eingeforderten kollektiven Moralvorstellungen provozieren. Umgekehrt unterstützt die Lehre aber häufig auch den dramatischen Diskurs, indem sie beispielsweise weibliche Laster an männliches Fehlverhalten zurückbindet und somit die einseitige Frauenschelte im Rahmen eines grundsätzlich bilateral konzipierten Ehediskurses neu ausbalanciert.
Das Buch versteht sich als substantieller Beitrag zur germanistischen Sachs-Forschung. Mit den tragedi und comedi wurden ein Textkorpus und eine Gattung gewählt, die gerade in der jüngeren, eindeutig die Meisterlieder präferierenden Literatur wenig Beachtung gefunden haben. Quasi komplementär ergänzt wird insbesondere die jüngste, ebenfalls in der „Imagines Medii Aevi“-Reihe erschienene Studie Johannes Rettelbachs zu den „nicht-dramatischen Dichtungen des Hans Sachs“.
„Um es kurz und bündig zu sagen: Dies ist die fundierteste und anregendste wissenschaftliche Monographie, die jemals über Sachs verfasst wurde. Das gewählte Thema, ›weibliche Rollenbilder in den Tragedi und Comedi‹, ermöglicht Sasse eine exemplarische Auseinandersetzung mit zentralen Anliegen des Dichters und ihrer Artikulation nicht nur im Medium des Bühnenspiels, sondern auch des Meisterlieds und Spruchgedichts. (...) ihr Hauptinteresse [gilt] dem moraldidaktischen
Gehalt der ›Frauenstücke‹ vor dem Hintergrund der protestantischen Ethik. Auf diesem Gebiet hat sie einen solchen Reichtum an Erkenntnissen geliefert, dass die moderne Sachs-Forschung, die nach wie vor sehr viel aufzuarbeiten hat,
sich so motiviert fühlen sollte wie selten zuvor.“
Von Niklas Holzberg
In: BGSL 2022, S. 156-160
Barbara Sasse (geb. 1960) studierte Germanistik und Geschichte in Düsseldorf und Münster; 1986 Erwerb des Magister Artium, 1989 Promotion zum Dr. phil. 1986-1990 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Münsteraner Sonderforschungsbereich 231 („Träger, Felder, Formen pragmatischer Schriftlichkeit im Mittelalter“); 1990-1996 Deutschlektorin an der Universität Bari. Seit 1996 Dozentin für Deutsche Literatur und aktuell Professorin für Deutsche Sprache. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen auf der Literatur und der Sprachgeschichte des Späten Mittelalters und der Frühen Neuzeit, insbesondere der Rezeptions- und Übersetzungsliteratur, dem Drama der Reformationszeit sowie den literarischen und fachsprachlichen Kommunikationsformen des frühen Druckzeitalters.
Es ist das Anliegen dieser Buchreihe, in der Dissertationen, Habilitationsschriften, sonstige monographische Darstellungen und Sammelbände erscheinen werden, die Interdisziplinarität der modernen Mittelalterforschung noch mehr hervorzuheben und zu fördern als dies bisher der Fall ist. Angenommen werden Arbeiten aus allen Gebieten der Mediävistik, sofern der Aspekt der Interdisziplinarität darin betont wird, d.h. sofern sie die Grenzen eines einzelnen Faches zu überschreiten suchen.