Die lateinischen mittelalterlichen, aus verlorenem antiken Material hervorgegangenen Schulkommentierungen zum römischen Satiriker Persius (34 bis 62 n.Chr.) werden hier erstmals in kritischen Einzeleditionen von drei der fünf erhaltenen Traditionen vorgelegt. Dieses auch als Modell für andere antike Autoren dienende Projekt soll das Rezeptionsinteresse in verschiedenen Epochen, Regionen und Bildungszentren dokumentieren, auch eine gesichertere Grundlage für die Rekonstruktion der antiken und frühmittelalterlichen Persius-Kommentierung liefern.
Der zur Zeit des Kaisers Nero schreibende römische Satiriker Persius (34 bis 62 n.Chr.) hatte mit seinem kleinen, nur 6 Satiren umfassenden Büchlein einen sensationellen Erfolg: er war in Antike und Mittelalter ein viel gelesener Autor, auch bald Schulautor, und zählte zum Kanon der „goldenen Autoren“. So überrascht es nicht, dass er häufig kommentiert wurde – für eine gebildete und interessierte Leserschaft, aber auch für den Schulunterricht. Das nur noch punktuell nachweisbare antike Material ist verloren, doch vom 9. bis 16. Jahrhundert besitzen wir aus vielen europäischen Regionen neben etwa 650 reinen Texthandschriften des Persius auch reiche Kommentierungen: etwa 35 einzelnen Gelehrten zuzuschreibende Kommentare und in 74 Handschriften anonyme Schulerläuterungen, die durch Probekollationen in 5 Traditionen (A – E) gegliedert werden konnten. Dieses für die Bildungsgeschichte und Wissensvermittlung wichtige Material, von dem bisher nur die Lesungen der 4 ältesten Handschriften der sog. A-Tradition bekannt sind, wird hier erstmals in einer kritischen Edition der Traditionen A, D und E vorgelegt. War bisher das Forschungsinteresse auf die antike Persius-Kommentierung und auf das gerichtet, was man für antike Persius-Scholien hielt, so wird es jetzt möglich, die mittelalterliche Persius-Rezeption, geschieden nach einzelnen Epochen und Bildungszentren, zu studieren und danach auch die Frage genauer zu beantworten, was an antikem Material noch in den mittelalterlichen Texten bewahrt ist; ferner kann nun das Verhältnis von Schul- und Gelehrten-Kommentaren geklärt werden. Da es für keinen anderen antiken Autor solch eine durchgehende Dokumentation gibt, hat das Projekt auch Modellcharakter. Angesprochen davon sind all die Philologien und Kulturwissenschaften, die an diesem mittelalterlichen Prozess der europäischen Bildungszentren entweder als mediävistische Disziplin oder hinsichtlich der Nachlebens- und Rezeptionsgeschichte oder auch als Ausgangspunkt für spätere kulturgeschichtliche Entwicklungen interessiert sind.
„Der römische Satiriker Persius zählte seit dem 10. Jh. zum Kanon der Schulautoren, trotz seiner berüchtigten Dunkelheit. Der Bedarf nach einer Kommentierung war also offensichtlich, und seit Remigius von Auxerre haben sich zahlreiche Gelehrte auf diesem Gebiet versucht. Seit dem Früh-MA kursieren aber auch anonyme Scholien unter dem Namen des Cornutus, der laut einer antiken Vita als Lehrer und Nachlaßverwalter des jung verstorbenen Dichters wirkte. Möglicherweise tradieren diese Scholien sogar teilweise noch antikes Material, doch läßt sich ein abschließendes Urteil darüber nicht treffen. Von den fünf Traditionen, in die sich der Cornutus-Kommentar aufgespalten hat, werden in diesem Band die drei ediert, die ein relativ geschlossenes Erscheinungsbild aufweisen. Nur Tradition A, die allen anderen letztlich zugrunde liegt, beginnt schon im Früh-MA; die ersten Hss. datieren aus dem 10. Jh. Die beiden anderen Traditionen sind hingegen ins humanistische Italien des 15. Jh. zu verorten. Die Edition, die sehr klar und übersichtlich gestaltet ist, legt großen Wert auf die Sichtbarmachung der Rezeptionsgeschichte. Das ist eine kluge Entscheidung; gerade bei einem Gebrauchs- und Schultext bietet die Wirkungsgeschichte mit den Anpassungen an die im Einzelfall veränderten Bedürfnisse interessantes und dokumentationswürdiges Material. Gegenüber der Edition von WendeIl V. Clausen und James E. G. Zetzel (München 2004; vgl. auch DA 40, 668), die ihr Ziel darin sieht, einen frühma. Urzustand zu rekonstruieren, ist das ein deutlicher Gewinn, zumal wenn, wie hier in der Einleitung, allen Hinweisen auf Entstehungkontext und Besitzer der einzelnen Hss. so gründlich nachgegangen wird, daß sich tatsächlich für die Texte ein Sitz im Leben ergibt, soweit das möglich ist. Ein ausführlicher Quellen- und Similienapparat, ein Stellen-und ein Namenregister ergänzen den Band.“
In: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters. Bd. 68 (2012) 1. S. 255.
Udo W. Scholz
1957-62 Studium der Klassischen Philologie, Germanistik und Geschichte in München und Erlangen, 1963 Dr. phil. und 1969 Habilitation an der Univ. Erlangen-Nürnberg, 1974 o. Prof. für Klassische Philologie an der Univ. Würzburg (1996 Dr. h.c. Univ. Caen); seit 2007 emeritiert.
Forschungsschwerpunkte: Lateinische Literatur der republikanischen und augusteichen Zeit, römische Geschichtsschreibung, römische Satire, römische Religion.
Claudia Wiener
1983-1990 Studium der Klassischen Philologie und Germanistik in Würzburg und Siena, 1994 Dr. phil., 2003 Habilitation an der Universität Würzburg, seit 2003 Professor für Lateinische Philologie an der LMU München.
Forschungsschwerpunkte: Beziehungen zwischen Philosophie, Kunst und Literatur in der kaiserzeitlichen lateinischen Literatur, Textüberlieferung, neulateinische Literatur.