Die arabische Dichtung über die italienischen Konzentrationslager in Libia Coloniale wird häufig primär als historische Quelle verstanden, ohne dass die Literarizität der Gedichte beleuchtet würde. In Ein leises Geräusch, wie ein Gefühl des Sehnens wird der Versuch einer literaturtheoretischen Annäherung an das Thema unternommen, um die sich in der arabisch-nomadischen Dichtungstradition befindlichen Erzählungen von Trauma und Leid in den Blickpunkt zu rücken und als arabische Lagerliteratur neu zu verstehen.
“Ein leises Geräusch, wie ein Gefühl des Sehnens”, so beschreibt ein Dichter die Schiffsgeräusche, während er – mit anderen Leidensgenoss:innen an Deck versammelt – zum berüchtigten Lager al-ʿAgīla deportiert wird. Die Geschichte der italienischen Konzentrationslager in der Kolonie Libia wird unter anderem über die Lagerdichtung erzählt, die von Überlebenden überliefert und im postkolonialen Libyen archiviert und in Teilen publiziert wurde. In der historischen Erforschung dieser Lager steht oft der Anspruch im Zentrum, sich von der eurozentrischen Kolonialgeschichtsschreibung zu lösen und dem Mythos des harmloseren italienischen Faschismus zu begegnen.
Die überlieferten Gedichte spielen hierbei eine zentrale Rolle, da sie als originäre, libysche Stimmen verstanden werden, die eine Gegenerzählung zu europäischen Narrativen bilden. Dabei tritt die literarische Bedeutung dieser Gedichte, die berührende Erzählungen subjektiven Leids in der Erfahrung des Konzentrationslagers darstellen, häufig in den Hintergrund. Auch die Implikationen, die mit dem potenziellen Trauma des Interniert-seins einher gehen, die bisweilen unklaren Überlieferungsketten, der Archivierungspraxis und nicht zuletzt das Verständnis dieser Gedichte als historische Faktenbeschreibungen werden kaum reflektiert.
Der Autor zeigt vor dem Hintergrund theoretischer Auseinandersetzungen mit dem Phänomen des Lagers, seiner traumatisierenden Potenziale und dem Umgang mit etwa europäischer Lagerliteratur, inwieweit die überlieferten Gedichte weit mehr als schlichte Tatsachenbeschreibungen darstellen und eine kritische Distanz zum Berichteten nicht zwangsläufig Zweifel an der Glaubwürdigkeit der Dichter:innen bedeutet. Die Gedichte stellen vielmehr literarische Werke in der Tradition der nomadischen Dichtung dar, sie sind arabische Lagerliteratur und somit subjektive Schilderungen von Leid und Ausnahmezustand im Konzentrationslager.
Anstatt die untersuchte Dichtung als Grundlage für die Bildung eines antikolonialen nationalistischen Narrativs zu verstehen, plädiert der Autor für eine Anerkennung der Dichtung als Zeugnis des Leidens. Lagerliteratur als globales Phänomen zeigt, wie verschieden Trauma und Leid verhandelt wurden. Die Gedichte über die italienischen Konzentrationslager sind in dieser Hinsicht beeindruckende Zeugnisse, die – eingebettet in die arabisch-nomadische Dichtungstradition – ihren ganz eigenen Umgang mit den Erfahrungen der Dichter:innen finden. So gelingt eine Wahrnehmung des Leids auf Augenhöhe, die die europäische Kolonialgeschichtsschreibung aus einer gänzlich anderen Perspektive mit ihrer Befangenheit konfrontiert.
Jonas Müller-Laackman, geb. 1987, hat an der Freien Universität Berlin und der Universiteit Leiden Arabistik studiert und wurde mit der vorliegenden Arbeit an der Freien Universität Berlin im Fach Arabistik promoviert. Neben den Forschungsschwerpunkten Trauma und Lagerliteratur ist er im Bereich der Digital Humanities tätig und arbeitet für die Berlin University Alliance an der Erarbeitung von Lösungen für die Forschung mit nicht-lateinischen Schriften.
Diese Reihe stellt innovative Arbeiten zu den nahöstlichen Literaturen in ihren verschiedenen Epochen und Gattungen vor. Sie versteht sich nicht ausschließlich als ein Forum für Orientwissenschaftler, sondern möchte auch Komparatisten, Literaturwissenschaftlern und einer interessierten Öffentlichkeit Einblicke in das breite Spektrum gegenwärtig produzierter und rezipierter Literatur des Nahen Ostens bieten.
Denn die Herausgeberinnen, Autorinnen und Autoren wollen den Titel der Reihe programmatisch verstanden wissen. Sie gehen von einem Begriff der Weltliteratur aus, der die orientalischen Literaturen nicht nur statisch einbegreift, sondern sie in ein Kulturregionen und Nationalsprachen übergreifendes Spannungsfeld stellt, dessen Dynamik erst im interdisziplinären Austausch erfasst werden kann. Sie gehen ferner davon aus, dass Literaturen in vielfacher Weise intertextuell geprägt sind, dass sie Lektüren verschiedenster vorausgehender Texte darstellen und daher erst in ihrem „lokalen historischen Kontext“ ihren Reiz als Ausdruck einer regional geprägten Ästhetik entfalten können. Die Reihe versucht so, einer neuen Sensibilität für mythische, archetypische, aber auch historische Subtexte in der nahöstlichen Literatur Bahn zu brechen, sie aber gleichzeitig als wichtigen Ausdruck einer globalen kulturellen Mobilität sichtbar zu machen.