Der mittelhochdeutsche Traktat ›Vierzig Myrrhenbüschel vom Leiden Christi‹ verbindet mittels Gesprächsinszenierungen traditionelle Hoheliedexegese mit detaillierten Anleitungen zur rechten Betrachtung der Passion Christi. Auf zwei Bände verteilt wird in drei Teilen der in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts wahrscheinlich in der Johanniterkommende zum Grünen Wörth in Strassburg für Beginen verfasste Traktat erstmals behandelt und ediert. Der erste Teil zeichnet die Funktion der Bibelstelle Ct 1,12 innerhalb der Auslegungstradition nach und untersucht Form und Inhalt der ›Vierzig Myrrhenbüschel vom Leiden Christi‹. Im zweiten Teil werden die erhaltenen Textzeugen (elf Handschriften und zwei Exemplare einer Inkunabelausgabe) möglichst genau erschlossen und in den Überlieferungskontext eingebettet. Der dritte Teil schliesslich bietet in gut lesbarer Form die Erstedition des umfangreichen Passionstraktats und macht in einem Lesartenapparat die wichtigsten Varianten sowie die unterschiedlichen Textstufen zugänglich.
Der bislang unerforschte mittelhochdeutsche Traktat ›Vierzig Myrrhenbüschel vom Leiden Christi‹ (VMB) wurde wahrscheinlich in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts in der Johanniterkommende zum Grünen Wörth in Strassburg verfasst. Er versteht sich als eine an Anfänger im geistlichen Leben gerichtete Anleitung zur rechten Betrachtung der Passion Christi. Für die Vermittlung des aus dem vorbildlichen Leiden Christi gewonnenen Wissens werden unterschiedliche Textstrategien auf je verschiedenen Ebenen inszeniert. Im Anschluss an die Hoheliedstelle Ct 1,12 (fasciculus myrrhae dilectus meus mihi inter ubera mea commorabitur) wird in einer Binnenerzählung exemplarisch vorgeführt, wie die personifikationsallegorisch als vorbildliche mitliderin Christi gedeutete sponsa aus dem Hohelied anhand von vierzig Myrrhenbüschelchen die einzelnen Leiden Christi visionär schaut. In affektiver Anteilnahme durchleidet die sponsa mit Christus dessen Leiden und erfährt vom verbum Dei den Sinn und Nutzen der einzelnen Leiden. Diese Betrachtungsmethode wiederum lehrt in einem als Rahmenhandlung inszenierten Unterweisungsgespräch ein fiktiver geistlicher Vater seine wissbegierigen geistlichen Kinder und steuert gleichzeitig die ideale Rezeptions- und Adaptationshaltung gegenüber dem Vermittelten.
Die zweibändige Arbeit gliedert sich in drei Teile. Der Untersuchungsteil A zeichnet die Funktion des fasciculus myrrhae-Verses innerhalb der Auslegungstradition nach, in die sich der Traktat VMB nahtlos einreiht, und erschliesst dessen Form und Inhalt sowie die Genese und Geschichte des Textes. In Teil B ermittelt eine Überlieferungsanalyse Gruppenzugehörigkeiten zwischen den bekannten elf Handschriften und den zwei Exemplaren des Inkunabeldrucks der VMB. Danach werden mit genauen Beschreibungen die Textzeugen äusserlich und inhaltlich erschlossen und kontextualisiert, wobei auch die kodexinterne Mitüberlieferung sowie die historische Gebrauchssituation der Textträger dargelegt und ausgewertet werden. Teil C bietet in gut lesbarer Form die Erstedition der VMB nach dem Text des Cod. Sang. 603 der St. Galler Stiftsbibliothek. Ein ausführlicher Lesartenapparat verzeichnet die wichtigsten Varianten der bekannten Überlieferungsträger.
Die relativ weite Verbreitung der hauptsächlich im südwestdeutschen Sprachraum sowohl in Frauen- und Männerklöstern unterschiedlicher Ordenszugehörigkeit wie auch in Laienkreisen gelesenen ›Vierzig Myrrhenbüschel vom Leiden Christi‹ belegt einen hohen Beliebtheitsgrad des Traktats, der zwar die bekannte Kombination von Hoheliedexegese und Passionsanleitung konzeptionell aufgreift, diese mittels unterschiedlicher Textstrategien jedoch innovativ weiterentwickelt und auf eine individuelle Adaptation des darin Vermittelten durch die Rezipientinnen und Rezipienten hin öffnet.
Richard Fasching studierte Deutsche Sprach- und Literaturwissenschaft, Geschichte des Mittelalters und Kirchengeschichte an der Universität Zürich. Seine Dissertation schrieb er im Projekt 'Texte und Bilder – Bildung und Gespräch. Mediale Bedingungen und funktionale Interferenzen' an der Universität Freiburg/Schweiz, wo er promoviert wurde. Er war wissenschaftlicher Koordinator bei e-codices, wissenschaftlicher Mitarbeiter im Parzival-Projekt (Universität Bern) und Koordinator des Kompetenzzentrums «Zürcher Mediävistik». Seit 2020 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter im Johann Caspar Lavater-Projekt an der Universität Zürich und an der Zentralbibliothek Zürich.
Die Buchreihe „Scrinium Friburgense“ umfasst Editionen, Monographien und Kolloquiumsbände aus allen Bereichen der Mediävistik, von der Kodikologie, Paläographie und Epigraphik über die mittelalterliche Geschichte, Philosophie- und Kunstgeschichte und die lateinische, deutsche, englische, französische, italienische und spanische Literatur des Mittelalters bis zur Byzantinistik. Besonders willkommen sind Arbeiten interdisziplinären Zuschnitts.