Das Buch enthält die erstmalige Untersuchung der Überliferungsgeschichte der Kniga palomnik des Antonij von Novgorod. Die kommentierte Neuausgabe bietet in philologischer Hinsicht eine neue Textgrundlage für die Erforschung der Charakteristika, der Überlieferung und der Rezeption der Pilgerliteratur auf russischem Boden und macht in historischer und sakraltopographischer Hinsicht eine Quelle zugänglich, die für die Rekonstruktion der heiligen Stätten der einstigen byzantinischen Hauptstadt von entscheidender Bedeutung ist.
Bei der Kniga Palomnik, einem um 1200 verfassten Reisebericht eines russischen Pilgers, des späteren Erzbischofs Antonij von Novgorod, handelt es sich um die ausführlichste erhaltene Beschreibung der Heiligtümer Konstantinopels vor seiner Plünderung im Jahr 1204. So wertvoll diese Stadtbeschreibung vor allem im Hinblick auf die Rekonstruktion der sakralen Topographie der Stadt ist, so problematisch ist ihre Lektüre. Der in Sammelbänden des 16.-18. Jhs. überlieferte altrussische Text gilt seit seiner russischen Erstausgabe von 1899 als verworren und stellenweise unverständlich.
Die hier vorgelegte Arbeit bietet eine kommentierte Neuausgabe und -übersetzung des Textes. Sie berücksichtigt alle Abschriften, die in den 120 Jahren seit seiner Erstedition bekanntgeworden sind, und ermöglicht somit ein besseres Verständnis des Textes und seiner Überlieferungsgeschichte. Auf dieser Grundlage stellt sie sich seiner bisherigen Interpretation und Beurteilung entgegen: So bietet die Untersuchung neue Erkenntnisse im Hinblick auf die Anzahl der Redaktionen des Textes, seinen Verbreitungsgrad und den Zeitpunkt und Ort seiner Niederschrift. Durch genaue Lektüre und die innere Rekonstruktion konnte zudem der vermeintlich konfuse modus operandi des Autors widerlegt werden, was den Bericht des Antonij von Novgorod als eine zuverlässige historische Quelle ausweist.
Durch ihre formale Anlage stellt die Edition auf einen breiteren Rezipientenkreis ab, als dies bei historisch-kritischen Editionen aus philologischen Kreisen üblich ist. Dem unverändert abgedruckten (und durch einen kritischen Apparat begleiteten) handschriftlichen Text wird seine Übersetzung gegenübergestellt, die jedoch gleichzeitig eine Rekonstruktion und Neuinterpretation des Textes bietet. Die Grundlage hierfür bildet der Kommentar, der der Edition vorangestellt ist und in dem die Rekonstruktionsvorschläge ausführlich erläutert werden. Die Transparenz von tatsächlicher Überlieferung und hypothetischer Rekonstruktion wird dabei durch verschiedene typographische Hervorhebungen sichergestellt. So ist es möglich, in der Übersetzung den Text so zu lesen, wie er vermutlich vom Autor intendiert war, und gleichzeitig die textkritische Entscheidung der Editorin anhand der vollständigen und authentischen Überlieferung nachzuvollziehen.
In dieser Weise bietet die Edition in philologischer Hinsicht eine neue Textgrundlage für die Erforschung der Charakteristika, der Überlieferung und der Rezeption der Pilgerliteratur auf russischem Boden; und in historischer und sakraltopographischer Hinsicht macht sie eine Quelle zugänglich, die für die Rekonstruktion der heiligen Stätten der einstigen byzantinischen Hauptstadt von entscheidender Bedeutung ist.
„Das sog. Pilgerbuch (Kniga palomnik) des Antonios von Novgorod, das auf Aufzeichnungen um 1200 zurückgeht, gehört zu den am häufigsten zitierten Werken, wenn es um Kirchenbauten und Reliquien in Konstantinopel geht. Auch wenn eine Vielzahl älterer und neuerer Ausgaben (am zuverlässigsten S. M. Loparev, Sankt Petersburg 1899) existieren, hat die nichtrussische Forschung fast ausschließlich die französische Übersetzung einer gewissen Mme B. de Khitrowo verwendet – hinter der sich die
russische Adelige Sofia Petrovna Chitrova (geb. Bachmatjeva) verbirgt –, publiziert als Auftragsarbeit der Sociéte de l’orient latin (Genf) unter dem Titel Itinéraires russes en Orient. Obwohl allen, die die Ausgabe benutzten, das topographische Chaos der Angaben und die Schwierigkeit, sie zu verwenden, auffiel, wurde das Werk wegen der Fülle seiner Mitteilungen zu Kirchen, Reliquien und Grablegen immer herangezogen und fand auch Eingang in die Handbücher, besonders in diejenigen von Raymond Janin (Constantinople byzantin und Les églises et les monastères de Constantinople).
In der vorliegenden Publikation hat die Slavistin Anna Jouravel die kodikologische und philologische Erforschung des Testes ganz neu aufgenommen oder besser gesagt: erstmals überhaupt durchgeführt. Der Großteil der Arbeit (S. 1–227) ist daher dem Text, seiner Überlieferung und seiner philologischen Interpretation gewidmet. Auf den Seiten 230–347 schließt sich die Edition des Textes mit paralleler deutscher Übersetzung und Kommentar in den Fußnoten an. [...]
In dieser kompilierten Form ist das „Notizbuch“ erstmals in der Handschrift Я, rund 300 Jahre nach seiner Entstehung, erhalten. Dank der gewissenhaften Arbeit der Herausgeberin, liegt nun ein Text vor, den wir für die Auswertung durch die Forschung als definitiv betrachten können, weil auch das Original (so besser als: Archetypus) kaum eine andere Form hatte, wenn die Überlegungen des Rezensenten Akzeptanz finden. Dieser Text kann nun ohne die bisherigen kodikologischen Unsicherheiten den Ausgangspunkt für weitere Untersuchungen darstellen.“
Von Peter Schreiner
In: Byzantine Review, 04/2022, S. 14-22
Anna Jouravel, Jahrgang 1982, studierte Slavistik und Indogermanistik in Berlin. Sie arbeitete als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Theologischen Fakultät der Friedrich-Schiller-Universität Jena und am Institut für Slavistik der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, wo sie 2018 promoviert wurde. Derzeit ist sie Feodor-Lynen-Stipendiatin (Alexander-von-Humboldt-Stiftung) am Byzantinischen Institut der Serbischen Akademie der Wissenschaften und Künste in Belgrad.
Es ist das Anliegen dieser Buchreihe, in der Dissertationen, Habilitationsschriften, sonstige monographische Darstellungen und Sammelbände erscheinen werden, die Interdisziplinarität der modernen Mittelalterforschung noch mehr hervorzuheben und zu fördern als dies bisher der Fall ist. Angenommen werden Arbeiten aus allen Gebieten der Mediävistik, sofern der Aspekt der Interdisziplinarität darin betont wird, d.h. sofern sie die Grenzen eines einzelnen Faches zu überschreiten suchen.