Spätestens seit der Frühen Neuzeit wird das Reisen zu einer zentralen Strategie der Erweiterung des Wissens. Zugleich erscheint es jedoch als privilegiertes Einfallstor für das Unberechenbare und Unfassbare. Die Beiträge des Bandes untersuchen, wie dieses unverständliche ‚Andere’ als Nicht-Wissen in Reisedokumentationen und Reisefiktionen der Literatur, des Films und der Bildenden Kunst zutage tritt und welche Funktionen es in epistemischer und ästhetischer Hinsicht übernimmt. Die Reise wird so einerseits als Medium der Legitimation oder Infragestellung epistemischer Ordnungen befragt, andererseits als poetische Figur der Aushandlung von Grenzen des Wissens gefasst.
Der vorliegende Sammelband widmet sich dem Zusammenhang von Reisen und Nicht-Wissen in Reisedokumentationen sowie in Reisefiktionen der Literatur, des Films und der Bildenden Kunst. Spätestens seit der Frühen Neuzeit wurden Reisen nicht nur zu einer wichtigen Strategie der Aneignung, Legitimation und Reflexion neuen Wissens oder der Revision etablierter Wissensbestände, sondern auch zum zentralen Einfallstor und Generator des Nicht-Wissens. Denn die theoretische oder praktische Grenzüberschreitung ins Unbekannte konfrontiert die Reisenden mit Erscheinungen und Erfahrungen, die nicht in vorhandene Wissensregister integriert werden können. Die Umgangsformen mit dem erfahrenen Nicht-Wissen sind dabei vielfältig. Es kann als eigenes Unwissen identifiziert oder als fremdes‚ unverständliches ‚anderes’ Wissen bewusst ausgeschlossen werden, es kann als ästhetische oder mystische Erfahrung in Werken der Kunst und Literatur Gestaltung finden oder aber als unfassbares und traumatisches Ereignis zwischen den Zeilen der Reiseberichte persistieren.
Die Inszenierung des Nicht-Wissens hängt in hohem Maße von der Art der thematisierten Reise und den gewählten Medien, Gattungen und Ästhetiken der Reisedarstellung ab. Die Beiträge des Bandes versuchen diesem Zusammenhang durch die Analyse eines breiten Spektrums von Präsentationsformen Raum zu geben. Untersuchungsgegenstände sind sowohl Reiseberichte und literarische Reisefiktionen als auch Karten und Expeditionsfilme, Spielfilme und Bilder sowie Werke der Videokunst und Postkarten von Reisenden. Darüber hinaus wenden sich die Artikel verschiedenen Formen von Reisen und damit differierenden Inszenierungsweisen des Nicht-Wissens zu: Sie untersuchen Entdeckungsreisen, deren Protagonisten auf der Suche nach der Neuen Welt, nach Schätzen, Abenteuern oder nach Bestätigung ihrer wissenschaftlichen Annahmen sind und dabei unvermutet ‚anderem’ Wissen begegnen, sich verirren oder verschollen bleiben. Sie beschäftigen sich aber auch mit der Figur des Vagabunden, dem das Reisen zum Selbstzweck oder Experiment zum Gewinn neuer Erfahrungen wird und der ästhetische Verfahren erprobt, in denen das Nicht-Wissen zur Anschauung gelangen kann. Weitere Beiträge befassen sich mit Spurensuchern, welche aus der Entfernung einen neuen Blick auf das Bekannte werfen, um bislang versteckte Zusammenhänge aufzuspüren oder die wider Willen in kriminologische Ermittlungen und kriegsbedingtes Unterwegssein verwickelt werden.
Indem die Studien des Bandes die Reise gleichermaßen als Medium und ästhetische Figur der Reflexion epistemischer Prozesse konzeptualisieren, bereichern sie nicht nur die Reiseforschung, sondern liefern auch einen Beitrag zur Debatte über den Begriff des Nicht-Wissens.
„Der Band ist [...] wirklich empfehlenswert. Vorliegendes Buch ist definitiv eine Bereicherung auf dem Feld der Thematisierung von Reiseliteraturen. Zahlreiche Abbildungen [...] erhöhen überdies das Lesevergügen.“
Von: Jörg Füllgrabe
In: literaturkritik.de, Nr. 4, April 2017. Online unter:
http://literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=23135
Irina Gradinari is research fellow at the Institut für Kulturwissenschaft (Institute for Cultural History and Theory) at Humboldt-Universität Berlin. From 2010-2013 she worked as an assistant fellow at the German Department at University Trier. Her current research project aims to investigate memory politics in West/East German as well as Russian war films on the Second World War.
Selected publications: I. G.: Genre, Gender und Lustmord. Mörderische Geschlechterfantasien in der deutschsprachigen Gegenwartsprosa, Bielefeld 2011; I. G. et al. (eds.): Geschlechter-Szene. Repräsentation von Gender in Literatur, Film, Performance und Theater, Freiburg 2010; I. G. et al. (eds.): Verbrechen – Fiktion – Vermarktung. Gewalt in den zeitgenössischen slavischen Literaturen, Potsdam 2013; I. G./ Höltgen, Stefan (eds.): Heiße Drähte. Medien im Kalten Krieg, Bochum 2014. Dies./Müller, Dorit/Pause, Johannes (eds.): Wissensraum Film, Wiesbaden 2014.
Dorit Müller is research fellow with the Emmy Noether Research Group Bauformen der Imagination. Literatur und Architektur in der Moderne (Building Formations of Imagination. Literature and Architecture in Modernity) at Freie Universität Berlin. From 2011-2013 she worked as postdoctoral fellow at the Research Center for Historical and Cultural Studies at Trier University. She is currently investigating architectures of knowledge in literature and visual media using historical examples of Arctic research and polar fiction.
Selected publications: D. M.: Gefährliche Fahrten. Das Automobil in Literatur und Film um 1900, Würzburg 2004;
D. M./Boden, Petra (eds.): Populäres Wissen im medialen Wandel, Berlin 2009; D. M./Scholz, Sebastian (eds.): Raum, Wissen, Medien. Zur raumtheoretischen Reformulierung des Medienbegriffs, Bielefeld 2012; D. M./Weber, Julia (eds.): Die Räume der Literatur. Exemplarische Zugänge zu Kafkas Erzählung „Der Bau“, Berlin 2013; D.M,/Gradinari, Irina/Pause, Johannes (eds.): Wissensraum Film, Wiesbaden 2014.
Johannes Pause is research fellow with the ERC-Project „The Principle of Disruption“ at Technical University of Dresden. From 2009-2014 he worked as postdoctoral fellow at the Research Center for Historical and Cultural Studies at Trier University. In his most recent project he is studying political cinema from the 1960s to the years 2000.
Selected publications: J. P.: Texturen der Zeit. Zum Wandel ästhetischer Zeitkonzepte in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, Köln 2012; J. P./ Nanz, Tobias (eds.): Das Undenkbare filmen. Atomkrieg im Kino, Bielefeld 2013; J. P./Gradinari, Irina/Müller, Dorit (eds.): Wissensraum Film, Wiesbaden 2014; J. P./Nanz, Tobias (eds.): Politiken des Ereignisses. Mediale Formierungen von Vergangenheit und Zukunft, Bielefeld 2015.
Die Publikationsreihe „Trierer Beiträge zu den historischen Kulturwissenschaften“ versteht sich als Forum für historisch orientierte und fächerübergreifende Forschungen aus dem Bereich der Kulturwissenschaften. Neben Sammel- und Tagungsbänden umfasst das Spektrum der Reihe auch monographische Studien und Ausstellungskataloge.
Als Herausgeber der Buchreihe fungiert der Vorstand des im Rahmen der Forschungsinitiative des Landes Rheinland-Pfalz finanzierten, an der Universität Trier angesiedelten „Historisch-Kulturwissenschaftlichen Forschungszentrums“ (HKFZ) Trier. Das derzeitige Forschungsthema des HKFZ „Räume des Wissens – Orte, Ordnungen, Oszillationen“ wird in vernetzten Projektgruppen an der Universität Trier sowie in Zusammenarbeit mit Kooperationspartnern aus dem In- und Ausland bearbeitet.