Die ›Bayerische Chronik‹ des Ulrich Fuetrer († um 1496) erfährt in diesem Band erstmals eine monographische Behandlung. Das bislang von der germanistischen und historischen Forschung meist unterschätzte Prosawerk wird anhand detaillierter Textanalysen erschlossen, neu bewertet und sein vielgeschmähter Autor als ernstzunehmender Chronist rehabilitiert. Die von mehreren gescheiterten Ansätzen gekennzeichnete Überlieferungs- und Textgeschichte ist in einer übergreifenden Erzählung gleichsam als eine Textbiographie angelegt, in welcher der Entstehungsprozess des Geschichtswerks über vier Redaktionen hin nachgezeichnet und seine Rezeptionsbedingungen rekonstruiert werden.
Um 1480 wurde in München ein innovatives genealogisches Projekt entwickelt, mit dem das Wissen über die Herrscher Bayerns in ain summ gebracht werden sollte. Der Wappenmaler und Romanautor Ulrich Fuetrer realisierte im Auftrag seines Landesherren Albrecht IV. von Bayern-München dieses Summenkonzept historiographisch-narrativ in zwei Anläufen in seiner ‚Bayerischen Chronik‘. Streng genealogisch denkend, konstruierte er in seinem Geschichtswerk ein dem Summenkonzept entsprechendes „Haus Bayern“. Fuetrers Chronik wird seitens der Forschung in der Regel wenig geschätzt und erfuhr bisher weder von geschichtswissenschaftlicher noch von germanistischer Seite eine monographische Behandlung. Im vorliegenden Band wird die ‚Bayerische Chronik‘ erstmals umfassend bearbeitet und Ulrich Fuetrer als Chronist gewürdigt. Anhand der gesamten einschlägigen Überlieferung einschließlich Neufunden wird die Handschriftenkonstellation erschlossen, ihr Produktionsprozess rekonstruiert, der Rezeptionsprozess aufgezeigt und die Wirkungsmacht der Chronik überprüft. Auf Basis gründlicher kodikologischer Analysen werden detaillierte Handschriftenbeschreibungen präsentiert. Beinahe wie in einem inquisitorischen Verhör werden die Codices dazu gebracht, ihre Geschichte zu erzählen. Auf der Ebene der Textgeschichte wird die Textgenese des Geschichtswerks über vier Redaktionen hin verfolgt, zudem wird herausgearbeitet, wer diese jeweils inhaltlich verantwortete. Auf der produktions- und wirkungsstrategischen Ebene wird die ‚Bayerische Chronik‘ unter besonderer Berücksichtigung der bayerischen Frühzeit anhand der beiden vom Verfasser zu verantwortenden Redaktionen inhaltlich erschlossen sowie der Herstellungsprozess und die Wirkungsabsicht der chronikalischen Texte nachvollzogen. Ausführliche Textanalysen decken den Bauplan der Chronik ebenso auf wie die Arbeitstechniken Ulrich Fuetrers sowie seine Vorstellungen, wie Chronistik zu schreiben sei. Erklärtes Ziel der Studie ist es, Ulrich Fuetrers historiographische Leistung zu anzuerkennen und ihn als Chronist endlich zu rehabilitieren. Der Überlieferungskonstellation geschuldet, wird auch die Überlieferungsgeschichte einer Bildergenealogie einbezogen, obwohl diese, anders als bisher angenommen, keineswegs die ‚Bayerische Chronik‘ illustriert, sondern als ebenfalls dem Münchner Summenkonzept gehorchendes, eigenständiges genealogisches Werk einzuschätzen ist.
Antje Thumser
Studium der Älteren deutschen Literatur und Sprache, Neueren deutschen Literatur und mittelalterlichen Geschichte an der Freien Universität Berlin; Promotion 2020. Forschungsschwerpunkte: Spätmittelalterliche Historiographie Bayerns, Historiographie Livlands im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit, Genealogie, Kodikologie.
https://antje.thumser.net
Die „Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters“ (MTU) sind eine international hochrenommierte Reihe der germanistischen Mittelalterforschung. Sie stellt ausgewählte editorisch und methodisch-analytisch orientierte Arbeiten von Fachkollegen aus dem In- und Ausland für die wissenschaftliche Öffentlichkeit bereit. Publikationssprachen sind Deutsch und Englisch. Die Reihe versteht sich als Forum für Publikationen zur Grundlagenforschung (Editionen, Untersuchungen zur Überlieferungs- und Textgeschichte, Standardrepertorien aus den Bereichen der material philology) wie auch für analytische Beiträge zur aktuellen Methodendiskussion anhand exemplarischer Untersuchungen.