Die St. Galler Handschrift 56 stellt in mehrfacher Hinsicht eine Besonderheit dar: Sie überliefert mit der harmonisierten Form der vier kanonischen Evangelien einen Text zum Leben Jesu, den es aus theologischer Sicht so gar nicht geben dürfte, und präsentiert diesen zugleich in einer aufwendig gestalteten lateinisch-althochdeutschen Bilingue. Die vorliegende Arbeit unternimmt eine Neubewertung der Konzeption dieser Handschrift, indem überlieferungsgeschichtliche, kodikologische und sprachwissenschaftliche Aspekte mit einer eingehenden Analyse zur Erzählweise der Harmonie verbunden werden.
Die Handschrift 56 der Stiftsbibliothek St. Gallen aus dem 9. Jahrhundert enthält mit dem sogenannten Althochdeutschen Tatian eine nach ihrem angenommenen Verfasser benannte Harmonie der vier getrennten Evangelien in einer lateinischen und einer althochdeutschen Fassung. Sowohl die Textgattung als auch die Darbietung des Textes in einer Bilingue stellen eine Besonderheit dar.
Während die vier kanonischen Evangelien Leben, Tod und Auferstehung Jesu aus einer je eigenen Perspektive darstellen und dadurch eigene Akzentuierungen aufweisen, versucht die Gattung Evangelienharmonie die vier getrennten Evangelien zu einem einheitlichen, wenn möglich widerspruchsfreien Text zu verbinden.
Während im 2. Jahrhundert, also zur Entstehungszeit des Tatian, dieses Bemühen in den Diskurs um die Glaubwürdigkeit der christlichen Kirche verortet werden kann, ist dies für das 9. Jahrhundert, zu einer Zeit als die Debatten um die Kanonizität der Evangelien längst abgeschlossen sind, kaum mehr möglich. Insofern bleibt die Frage, worin das spezifische Interesse bestand, diesen Text nach der Vorlage des Codex Bonifatianus 1 (Hochschul- und Landesbibliothek Fulda) in präziser Weise zu kopieren und mit einer althochdeutschen Übersetzung zu versehen.
Bislang findet sich in der altgermanistischen Literaturgeschichtsschreibung vorzugsweise das Argument, dass die Harmonie mit ihrer vermeintlich einfacheren Darstellungsweise eine besonders gut geeignete Textgattung für die Katechese sei, wobei die althochdeutsche Übersetzung zugleich die Brücke für den nicht lateinisch gebildeten Leser leisten sollte.
In der hier vorgenommenen Untersuchung der Handschrift wird diese Zuschreibung hinterfragt. Dabei wird die Handschrift aus unterschiedlichen Blickwinkeln untersucht. Der Titel „Studien zum Tatian“ spiegelt dies insofern wider, da bislang eher nebeneinander behandelte Aspekte wie Überlieferungsgeschichte, kodikologische Aspekte, Übersetzungsweise und die Art der Erzählung miteinander verbunden werden. Hierbei zeigt sich, dass die Handschrift nicht nur ein äußerst anspruchsvolles Produkt karolingischer Schriftkultur ist, sondern zugleich einen Text bietet, der alles andere als einfach ist: In der spezifischen Kombinatorik und Anordnung von Textpassagen zeigt die Harmonie einen durchdachten Aufbau mit einer bewusst gesetzten theologischen Akzentuierung. Darauf scheint die Übersetzung zu reagieren, zudem zeigt sie sich bei aller Gebundenheit an das Lateinische an zahlreichen Stellen durchaus eigenständig und frei. Bei der Betrachtung dieser Ergebnisse entzieht sich die St. Galler Tatianbilingue daher einer einfachen Zweckbestimmung; ihr Sinn liegt möglicherweise darin, dass hier Formen und Ausdrucksweisen in experimenteller Weise gesucht wurden.
„In Summa bleibt [...] festzuhalten, dass hier eine gwissenhaft gefertigte und vor allem gut lesbare Arbeit völlig zu Recht ihren würdigen Platz in der Tatianforschung einnehmen wird. Mit seinem traditionellen und und handschriftennahen Ansatz tritt Kapfhammer wie Tatian selbst in gewisser Weise als Kompilator auf, denn auch dort, wo es der Arbeit an Innovationsbestreben und neuen Perspektiven fehlt, fügt er in kohärenter und überzeugender Manier prominente Lehrmeinungen und auch so manche vernachlässigte periphere Fragestellung sinnstiftend zusammen, mehr beschreibend als ermittelnd, wodurch aber dem Leser ein in sich stimmiges Bild der Evangelienharmonie mit all ihren Schwächen und Stärken gezeichnet wird.“
Von: Fabian Fleißner
In: Beiträge zur Geschichte der Deutschen Sprache und Literatur, 139 (2017), Heft 4, S. 609-613.
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„Die [...] eindrucksvolle, ertragreiche, sorgfältig gearbeitete und mit einem umfangreichen Literaturverzeichnis und synoptischen Tabellen schließende Arbeit wurde vom Verlag sehr solide und hochwertig ausgestattet. Sie liest sich stellenweise wie eine Summa der Tatian-Forschung. Dass sie konsequent den Versuch unternimmt, die frühe deutsche Literatur nicht nur als Materialfundus für sprachhistorische Erkundungen zu benutzen, sondern diesen tastenden Versuch volkssprachlicher Schriftlichkeit eine - wenn auch primär katechetisch motivierte - gestalterische und erzählerische Ambition zuzutrauen und dies auch am Text nachzuweisen, ist unbestreitbar ihr größtes Verdients.“
Von: Heiko Hartmann (HTWK Leipzig)
In: Mediaevistik 29 (2016), S. 409-411.
Gerald Kapfhammer
geboren 1972,
1992: Abitur
2004: Erste Staatsprüfung für Lehrämter am Gymnasium in den Fächern Deutsch und Katholische Religionslehre
2000-2004: Studentische und wissenschaftliche Hilfskraft am Lehrstuhl für Ältere deutsche Sprache und Literatur, Prof. Dr. Hans-Joachim Ziegeler, Universität zu Köln
2005-2008: Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Sonderforschungsbereich 427/ Kulturwissenschaftlichen Forschungskolleg „Medien und kulturelle Kommunikation“ (Universitäten Aachen, Köln und Bonn) im Teilprojekt „Popularisierung von Literatur und Sichtbarmachung des Unsichtbaren - 'Tod', 'Seele' und 'Jenseits' in Bilderzyklen und Texten der Frühen Neuzeit“, Leitung: Prof. Dr. Hans-Joachim Ziegeler; Dissertation „Die Rezeption der Evangelienharmonie im Althochdeutschen: Studien zum Codex Sangallensis 56“
2009-2011: Referendar am Studienseminar für Lehrämter an Schulen – Leverkusen
seit 2011: Lehrer für Deutsch und Katholische Religionslehre am Geschwister-Scholl-Gymnasium in Pulheim (bei Köln)
Forschungsschwerpunkte:
Geistliche Literatur des Mittelalters
Schrift- und Lesekultur der Vormoderne
Mediale Differenzen: Handschrift und früher Buchdruck
Text-Bild-Relationen in Drucken der Frühen Neuzeit
This series, which will comprise doctoral and professorial dissertations and other monographs as well as collective volumes, aims at highlighting and promoting interdisciplinarity in Medieval Studies even more than is currently the case. Works from all branches of Medieval Studies will be accepted, provided they emphasise the aspect of interdisciplinarity, i.e. they attempt to transgress the boundaries of any single subject.