Reinmar von Zweter ist der wohl wichtigste Sangspruchdichter zwischen Walther von der Vogelweide und Frauenlob. Die Überlieferung seiner Werke ist gewissermaßen doppelt einmalig: sowohl die geordnete Sammlung seiner Sangsprüche als auch die frühe Überlieferung des ihm zugeschriebenen geistlichen Leichs haben im 13. Jahrhundert keine Parallele. Die genaue Analyse der Handschriften zeigt, wie sich der Aspekt auf das Oeuvre über die Jahrhunderte verändert. Die verschiedenen Bilder vom Autor ziehen sich bis zur Dichterminiatur der Großen Heidelberger Liederhandschrift oder zur literarischen Figur ‚Reinmar‘ im ‚Wartburgkrieg‘. Die literaturwissenschaftliche Untersuchung des Kernkorpus, flankiert durch eine Auseinandersetzung mit dem Reinmarbild der Edition Gustav Roethes, öffnet neue Blicke auf das innovative Potential des Oeuvres.
Reinmar von Zweter, der wohl wichtigste Sangspruchdichter zwischen Walther von der Vogelweide und Frauenlob, hat mit seinen politischen, didaktischen und geistlichen Strophen sowie mit seinem religiösen Leich ein beeindruckendes Korpus hinterlassen, dessen Rezeption im 13. Jahrhundert und lange darüber hinaus ganz außergewöhnlich ist. Dennoch stand dieses Oeuvre seit der umfassenden Reinmar-Edition Gustav Roethes (1887) nicht mehr im Zentrum einer ausführlicheren Untersuchung; lange Zeit wurde das Werk vor allem für biographistische Interpretationen herangezogen.
Der Aspekt der ‚Reinmarbilder‘ betont demgegenüber die Vielfalt der Perspektiven, die sich beim Blick auf das Werk ergeben. Die detaillierte Handschriftenanalyse zeigt, wie bereits im Mittelalter bei jeder Niederschrift und jeder Sammlung ein anderes Bild von Reinmar aktiviert wird. Dass die Überlieferung auf eine wohl bereits zu Lebzeiten des Autors entstandene Sangspruch-Sammlung zurückzuführen ist, die hier neu eingegrenzt werden kann, weist auf einen besonderen Bezug zur Schriftlichkeit und ist im 13. Jahrhunderts einmalig. Der Leich wurde intensiv rezipiert, wie die Überlieferung und die lateinische Kontrafaktur belegen; auch hier sind die frühen Fragmente im 13. Jahrhundert in der Gattung einzigartig. Die Kette der Bilder erstreckt sich von der Schriftüberlieferung über die Dichterminiatur der Großen Heidelberger Liederhandschrift, über die literarische Figur ‚Reinmar‘ im ‚Wartburgkrieg‘ und die Nennungen bei anderen Autoren sowie in Dichterkatalogen. Beim notorischen doenediep-Vorwurf wird keine Vereindeutigung des Begriffs angestrebt, sondern vermutet, dass die Mehrdeutigkeit intentionaler Bestandteil der Invektive ist. In dieser Kette von Bildern wird die Prägung in Roethes Edition als ein weiteres, diesmal wissenschaftliches, Konstrukt erwiesen.
Die literaturwissenschaftliche Untersuchung des Kernkorpus verfährt in verschiedenen thematischen Schnitten; hier wird vor allem auf die katechetischen Aspekte der geistlichen Strophen, auf die verarbeiteten Bildungsinhalte, die Sprechhaltungen, auf Sprachspiele und religiöse Subtexte geachtet. Der einheitsstiftende Begriff des Autors ist in diesem Fall nicht Ziel eines biographischen Konstrukts, sondern eine Indexfunktion der Texte, die auf einen literaturhistorischen Zeitpunkt verweist. Damit werden neue Blicke auf das innovative Potential des Oeuvres geöffnet, womit es aus dem Schlagschatten bekannterer Zeitgenossen heraustreten dürfte.
Martin Schubert, *1963, ist Altgermanist: 1990 Promotion, 2002 Habilitation, jeweils in Köln; 2000–2016 Mitarbeiter der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, seit 2016 Professor für Germanistik/Mediävistik an der Universität Duisburg-Essen. Forschungsschwerpunkte: Mittelalterliche Lyrik; Geistliche Literatur im Mittelalter; Editionswissenschaft und Editionspraxis. Projektleitung vor allem editorischer altgermanistischer Projekte („Regenbogens Langer Ton“, „Österreichischer Bibelübersetzer“ u. a.); Reihenherausgeber der Editionsreihe „Deutsche Texte des Mittelalters“.
Es ist das Anliegen dieser Buchreihe, in der Dissertationen, Habilitationsschriften, sonstige monographische Darstellungen und Sammelbände erscheinen werden, die Interdisziplinarität der modernen Mittelalterforschung noch mehr hervorzuheben und zu fördern als dies bisher der Fall ist. Angenommen werden Arbeiten aus allen Gebieten der Mediävistik, sofern der Aspekt der Interdisziplinarität darin betont wird, d.h. sofern sie die Grenzen eines einzelnen Faches zu überschreiten suchen.